2Die Verwendung der Begriffe Schuldenberatung und Schuldnerberatung erfolgt in dieser Tabelle entsprechend dem derzeit landesüblichen Sprachgebrauch.
3Statistisches Bundesamt Destatis 2020, Fachserie 15, Reihe 5, Jahr 2019.
4ASB Schuldnerberatungen GmbH 2020, Schuldenreport 2020.
5Die letzte vom Dachverband Schuldenberatung Schweiz veröffentlichte Statistik bezieht sich auf das Jahr 2016. Bei diesem Wert handelt es sich lediglich um eine Schätzung. Diese erfolgte auf der Grundlage langfristig konstanten Beratungszahlen in den Jahren 2016.
6Deutscher Bundestag, WD 7-3000-218/18.
7Schweizer Konferenz für Sozialhilfe 2021, Sozialhilferichtlinien, Allgemeiner Teil.
8Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung e. V. o. J., Positionen.
9ASB Schuldnerberatungen GmbH 2019, Wege aus der Schuldenfalle. Rechts- und sozialpolitische Forderungen der Schuldnerberatung.
10Siehe Handlungsempfehlungen des Forschungsberichts im Rahmen des Nationalen Armutsbekämpfungsprogramms des Bundesamts für Sozialversicherungen (Mattes/Fabian 2018), Forschungsbericht 7/17.
2 Eine erste Standortbestimmung zur Schuldenberatung
Wenn private Haushalte auf Hilfe zur Bewältigung ihrer Schulden angewiesen sind, liegt der Schluss nahe, dass Beratungspersonen mit umfangreichem Fachwissen zu Geld, Haushaltsbudgets und mit viel juristischem Sachverstand gefragt sind. Auf den ersten Blick ist dies verständlich, denn sowohl verschuldungsbetroffene Personen wie auch deren Gläubiger*innen sehen die Ursachen dieses Problems weitgehend in persönlichen Defiziten, in einem unangemessenen Umgang mit Geld oder unachtsam geschlossener Verträge. Und nicht selten ist in der Fachöffentlichkeit anderer Professionen und Disziplinen als die der Sozialen Arbeit die Meinung anzutreffen, Schuldenberatung sei vermittelnde Akteurin zwischen Schuldner*in und Gläubiger*in, der das Ziel verfolgt, den Weg in die Schuldenfreiheit für die Betroffenen zu bahnen. Doch wenn wir Schuldenberatung als Hilfeangebot der Sozialen Arbeit verstehen, das verschuldete Personen und Haushalte auf der Grundlage ihrer eigenen Ressourcen 11 zur Eigenverantwortung und Autonomie befähigen will, dann offenbart sich ein anders Verständnis: Anstatt von Fehlern und Defiziten verschuldeter Menschen auszugehen, werden in der Beratung die Ressourcen und Stärken thematisiert, die zur Erarbeitung einer Lösungs- und Bewältigungsstrategie im Umgang mit Schulden dienlich sind.
Um aber verstehen zu können, was dieses Verständnis zur Schuldenberatung legitimiert und die Vorstellungen zu Professionalisierung aus Sicht der Disziplin, also aus dem wissenschaftlichen Fachdiskurs zur Sozialen Arbeit heraus prägt, sind die Funktionalitäten dieses Hilfeangebots vorab zu beleuchten. Auf was antwortet dieses Hilfeangebot, das in seinen theoretischen Bezügen nur schwer in der Soziale Arbeit verortet werden kann, in der Praxis aber als institutionalisierte Antwort auf Schulden und finanzielle Problemalgen steht?
Dieses Kapitel führt in die Referenzpunkte der Schuldenberatung als Soziale Arbeit ein. Was führte und prägt auch heute noch die Genese des Hilfeangebots? Dabei wird zunächst auf die Etablierung der arbeitsteiligen Gesellschaft (
Kap. 2.1) und anschließend auf die gesellschaftlichen Fortschritte und Weiterentwicklungsmöglichkeiten eingegangen, die Verschuldung mit sich brachten (
Kap. 2.2). Darauf aufbauend wird eingeführt, wie sich die Schuldenberatung in die Rahmung des Hilfesystem der Sozialen Arbeit, hier insbesondere der spezialisierten Hilfen, eingeordnet hat (
Kap 2.3). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Schuldenberatung in die wohlfahrtsgesellschaftliche Logik des Konsument*innenschutzes einzuordnen (
Kap. 2.4), sie aber auch im Lichte dessen, dass Verschuldung und Zahlungsstörungen ein attraktiver Markt gewerblicher Akteure der Finanzwirtschaft darstellt, zu beleuchten (
Kap. 2.5). Abschließend wird auf volkswirtschaftliche Aspekte der privaten Verschuldung eingegangen (
Kap. 2.6).
2.1 Schuldenberatung als Antwort auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse
Dass die Soziale Arbeit Hilfen bei Verschuldung anbietet, ist nicht nur dem sich langfristig abzeichnenden Trend der immer weiter ansteigenden Verschuldung privater Personen und Haushalte als Normalzustand geschuldet. Es ist in den Umbrüchen und Veränderungsprozessen der Industrialisierung begründet, die nicht nur neue Formen der Erwerbsarbeit etablierte, sondern in den neu entstandenen Formen des Zusammenlebens der Menschen zugleich auch neue Probleme und Unterstützungsbedarfe mit sich brachte. Ein von Beginn der Industrialisierung an spürbares Problem war das der Verschuldung der Arbeiter und deren Familien. (vgl. Schwarze 2019: 62). Nicht ohne Grund boten »Armenfürsorger*innen« in Wirtshäusern von Arbeitersiedlungen die erste Schuldenberatung an. Mit Hilfe von Haushaltsplänen und Haushaltsbüchern wurden die monatlichen Einnahmen und Ausgaben vor allem mit den Frauen aus den Arbeiterfamilien geplant. Grund war, dass der wöchentlich ausbezahlte Lohn nicht in den Familien der Arbeiter ankam, sondern vielfach zur Bezahlung der offenen Zechen in den Trinkstuben verwendet wurde (Sachße/Tennstedt 1986). Auch wenn dieses Bild der Konsument*innenverschuldung längst nicht mehr dem heutigen entspricht und die Lebenslage verschuldungsbetroffener Haushalte von modernen und komplexen Finanzdienstleistungen, juristischen Grundlagen der Rechtsverfolgung bis hin zu digitalen Bewertungsverfahren der Zahlungsfähigkeit (Scoring) geprägt ist, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die im Alltag der Privathaushalte auftretenden Schulden immer aktuelle gesellschaftliche Umbrüche abbilden und die Beratung von Menschen in Notsituationen stetig vor neue Herausforderungen stellt.
So führte der Übergang von der Vorratswirtschaft hin zur Dienstleistungsgesellschaft dazu, dass den Menschen nicht nur eine Vielzahl neuer Produkte und Dienstleistungen zur Konsumtion angeboten wurden. Es entstanden auch Finanzierungsmodelle und Verschuldungsmöglichkeiten, die aus diesem oft als Massenkonsum bezeichneten Phänomen der Arbeitsteilung erst das machte, was der Name eigentlich besagt. Die breite Masse der Gesellschaft, unabhängig von der aktuellen wirtschaftlichen Situation, findet Zugang zu diesen Konsummöglichkeiten. Der Konsum in einer Dienstleistungsgesellschaft stiftet nicht nur objektiven Nutzen, sondern vermittelt vielmehr auch Modernität und das Gefühl von Freiheit und Fortschritt.
Ein weiterer Unterschied zwischen der Vorratswirtschaft und einer Dienstleistungsgesellschaft ist der, dass Dienstleistungen situativ sind. Sie stiften nur gegenwärtig den gewünschten Nutzen und können nicht aufgespart werden. Waren die Menschen über Jahrhunderte hinweg gewohnt, durch gegenwärtigen Konsumverzicht und Sparverhalten zu einem späteren Zeitpunkt eine Belohnung zu bekommen, wurden plötzlich Konsumgüter und Dienstleistungen angeboten, die ihr Optimum an Nutzen dann stiften, wenn sie sofort verzehrt oder beansprucht werden. Aus dem tradierten Konsumverzicht und Belohnungsaufschub, mit dem Menschen versuchten Jahreszeiten, Naturkatastrophen oder Erkrankungen zu bewältigen, wurde ein höchst inflationäres und Krisenanfälliges Konstrukt der Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft.
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