1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Neben der territorialen, funktionalen und kategorialen Ausrichtung von GWA gelten die unterschiedlichen politischen Zielrichtungen, auch »Ansätze« genannt, sowie deren entsprechender Methodeneinsatz ebenfalls als charakteristische Merkmale von GWA. In Theorie und Praxis variierten die Zielsetzungen und der Einsatz von Methoden stark nach der jeweiligen politischen Ausrichtung zwischen Ansätzen konservativer Systemerhaltung (wohlfahrtsstaatliche/integrative GWA), evolutionärer (katalytische/aktivierende GWA) oder revolutionärer Systemveränderung (aggressive GWA) (Galuske 2007: 101–106). Stövesand u. a. problematisieren ebenfalls die Wirkungen der beiden politisch gegensätzlichen (sozialrevolutionäre und konfliktorientierte vs. systemerhaltend-harmonisierende) Ansätze der GWA in der Vergangenheit. Während marxistisch ausgerichtete Theorieansätze in der Praxis auf konfrontative, skandalisierende Techniken setzten, seien die subjektiven Bedürfnisse und Probleme der betroffenen Menschen tendenziell missachtet oder vernachlässigt worden. Auf Seiten der konservativen und heute eher pragmatisch-manageriellen Ansätze würden die benachteiligenden gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse ignoriert und wirkten in ihren Interventionsformen und Techniken ausschließlich kollektiv-kooperativ und konsensorientiert (Stövesand 2013: 19 f.). In beiden Beschreibungen wird der Eindruck vermittelt, der Einsatz von Methoden und Techniken wäre ausschließlich von der politischen Haltung der Professionellen abhängig und nicht auch eine Frage der sozialen Konfliktlage, d. h. der Kooperationsbereitschaft der beteiligten AkteurInnen einerseits und des Willens zur Veränderung dieser andererseits, sowie der Entscheidung von Professionellen bezüglich der Parteilichkeit für bestimmte Bevölkerungsteile oder Themen.
Einen breiten Konsens in der Fachwelt scheint es bezüglich der für GWA konstituierenden Merkmale zu geben. Die Festschreibung gesellschaftlich konstatierter Missstände und sozialer Konflikte als Ausgangspunkt von GWA scheint insofern ergänzungsbedürftig, als damit nicht ausschließlich reaktive Arbeit im Sinne der Skandalisierung und Bearbeitung offenkundiger und latenter Konflikte und Missstände, sondern auch prospektive Arbeit zur Vermeidung von Missständen zu verstehen wäre. Dass Probleme stets im Kontext lokaler, regionaler oder gesamtgesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Ursachen gesehen werden, gehört ebenso zum »State of the Art« der Profession Soziale Arbeit wie die Kooperation und Koordination lokaler AkteurInnen, die trägerübergreifende Vernetzung von Diensten und Einrichtungen sowie die Beteiligung und Aktivitätsunterstützung der Bevölkerung und die Methodenintegration. Weniger Konsens gab und gibt es in der Scientific Community bezüglich der Verwendung und Einordnung der Begrifflichkeiten rund um Gemeinwesenarbeit und Sozialraumorientierung. Neben immer noch bestehenden akademischen Uneinigkeiten zur Unterscheidung von Konzept und Methode (Geißler/Hege 2007; Galuske 2007; von Spiegel 2008; Kreft/Müller 2010; Heiner 2010) in der Sozialen Arbeit gibt es Beschreibungen von GWA als Arbeitsprinzip, Arbeitsfeld, Methode oder Konzept, die mit anderen Begriffen wie Fach- oder Handlungskonzept Sozialraumorientierung, Sozialraumarbeit oder Quartiermanagement/-arbeit um die ›Lufthoheit‹ über den Schreibtischen und Lehrsälen sowie um die Dominanz in den einschlägigen Publikationsdiskursen zu konkurrieren scheinen.
Stövesand u. a. (2013) haben in ihrem Handbuch den Versuch unternommen, die unterschiedlichen Verständnisse und Zielrichtungen der GWA unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung und der Rezeption in der Fachliteratur zu systematisieren, und schlagen vor, GWA als grundlegendes übergreifendes Konzept Sozialer Arbeit zu verstehen. Gemeinwesenarbeit wird demnach als eigenes Konzept Sozialer Arbeit deklariert, das von einer generellen Grundorientierung auf Individuen ausgehend »die Entwicklung gemeinsamer Handlungsfähigkeit und kollektives Empowerment bezüglich der Gestaltung bzw. Veränderung von infrastrukturellen, politischen und sozialen Lebensbedingungen fördert« (ebd.: 16).
Mit Verweis auf die von Geißler und Hege (2007) entwickelte Unterscheidung von Konzepten, Methoden und Techniken bezeichnen Stövesand u. a. (2013) die von Boulet, Kraus und Oelschlägel (1980) als »Arbeitsprinzip« beschriebene GWA als übergreifendes »Konzept«. GWA wird nach Stövesand u. a. nicht nur als »vielfältiges Konzept« sondern gleichzeitig auch als »Handlungsfeld« bezeichnet, »insofern es Einrichtungen und Projekte gibt, die explizit Konzepte der GWA anwenden« (2013: 21). In der Verwendung des Plurals »Konzepte der GWA« wird eine weitere Unschärfe des Konzeptbegriffs der HerausgeberInnen des Handbuch GWA deutlich, die einerseits GWA als eigenständiges Konzept Sozialer Arbeit bezeichnen und gleichzeitig einräumen, dass es mehrere Konzepte der GWA gibt und GWA ebenfalls als Handlungsfeld zu verstehen sei.
Im »Handbuch Gemeinwesenarbeit« lautet die Definition von GWA folgendermaßen:
»Gemeinwesenarbeit richtet sich ganzheitlich auf die Lebenszusammenhänge von Menschen. Ziel ist die Verbesserung von materiellen (z. B. Wohnraum, Existenzsicherung), infrastrukturellen (z. B. Verkehrsanbindung, Einkaufsmöglichkeiten, Grünflächen) und immateriellen (z. B. Qualität sozialer Beziehungen, Partizipation, Kultur) Bedingungen unter maßgeblicher Einbeziehung der Betroffenen.
GWA integriert die Bearbeitung individueller und struktureller Aspekte in sozialräumlicher Perspektive. Sie fördert Handlungsfähigkeit und Selbstorganisation im Sinne von kollektivem Empowerment sowie den Aufbau von Netzwerken und Kooperationsstrukturen. GWA ist somit immer sowohl Bildungsarbeit als auch sozial- bzw. lokalpolitisch ausgerichtet.« (Stövesand u. a. 2013: 21)
Begriffsverwendung von Gemeinwesenarbeit (GWA)
GWA wird im Rahmen dieser Publikation nicht als Konzept sondern als Handlungsfeld Sozialer Arbeit »in und mit Gemeinwesen« verstanden. Dabei bezieht sich die Bezeichnung »in Gemeinwesen« auf die oben erwähnte Bedeutung von Gemeinwesen als territorial und politisch begrenzte Gebietskörperschaft 8 (Kommune, Gemeinde, Teile von Kommunen/Gemeinden), während die Bezeichnung »mit Gemeinwesen« auf die Bedeutung von Gemeinwesen als ›Personalverband‹ 9 miteinander in anderer Verbindung stehender Menschen rekurriert. Mit »Handlungsfeld« Sozialer Arbeit wird ein fachlicher Kontext bezeichnet, der durch soziale Lebens- und Problemlagen von Menschen, entsprechende Erklärungs- und Handlungstheorien, sozialrechtliche, sozialpolitische und organisationelle Rahmenbedingungen sowie spezifische Handlungskonzepte und Methoden gekennzeichnet ist (vgl. Einleitung zum Band Becker, Kricheldorff, Schwab 2020). GWA lässt sich mit der o. g. Definition als »Handlungsfeld Sozialer Arbeit in und mit Gemeinwesen« deutlich unterscheiden von anderen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit (wie z. B. der Suchthilfe), die zwar in Gemeinwesen (territorial verstanden) mit ihren Einrichtungen und Diensten verortet sind, jedoch nicht den Anspruch haben, gleichzeitig und zwingend auch mit dem Gemeinwesen (als Personenverband verstanden) zu arbeiten. Unter Berücksichtigung der oben erwähnten Breite des Begriffs Gemeinwesen als Gebietskörperschaft und Personalverband (Nation, Land, Kreis, Stadt etc.) ergibt sich die praktische Notwendigkeit das »Handlungsfeld Sozialer Arbeit in und mit Gemeinwesen« entsprechend der jeweiligen Zuständigkeit und Ausrichtung auf ein konkretes »Gemeinwesen«, sei es eine Stadt, eine Gemeinde, ein amtlicher Stadtbezirk (s. o.) oder ein Quartier (s. o.) zu spezifizieren. Dementsprechend wird im weiteren Verlauf der Erläuterung dieses Handlungsfeldes Sozialer Arbeit in und mit Gemeinwesen auf den Bereich der Stadt- und Quartierentwicklung fokussiert werden. Ausführungen zu konkreten Einsatzbereichen und Tätigkeitsfeldern (Quartiereinrichtungen, Stadtteilbüros, MGHs etc.) von GWA finden sich in Becker (2016a: Kap. 4–6).
Читать дальше