Mit dem Begriff »Gemeinwesenarbeit« war in seiner historischen Entwicklung zunächst eine Methode, dann ein Arbeitsfeld und schließlich ein Arbeitsprinzip verbunden. Kennzeichnend für GWA ist dabei, dass der Fokus nicht auf einem Individuum oder einer Kleingruppe liegt,
»sondern in einem großflächigeren sozialen Netzwerk [Hervorhebung in Kursivschrift im Original], das territorial (Stadtteil, Nachbarschaft, Gemeinde, Wohnblock, Straßenzug), kategorial (bestimmte ethnisch, geschlechtsspezifisch, altersbedingt abgrenzbare Bevölkerungsgruppen), und/oder funktional (d. h. im Hinblick auf bestimmte inhaltlich bestimmbare Problemlagen wie Wohnen, Bildung etc.) abgrenzbar sind [ist].« (Galuske 2007: 101)
Wie aus der dargestellten historischen Entwicklung durchgängig erkennbar, bezieht sich GWA meist auf eine territoriale Einheit (Stadtteil, Stadtviertel oder kleinere Gemeinde). In den Anfangszeiten der Settlementbewegung waren Armen- oder sogenannte »Elendsviertel« die Einsatzgebiete der GWA. Pionierinnen der Sozialen Arbeit wie Alice Salomon oder Marie Baum haben schon früh die Notwendigkeit des Einbezugs des sozialen und räumlichen Umfelds hilfebedürftiger Menschen für die Bearbeitung und Bewältigung sozialer Probleme erkannt und gefordert.
In den Großwohnsiedlungen der Nachkriegszeit wurde, als diese, auf dem Planungsmodell Le Corbusiers (1957) basierenden Trabantenstädte im Laufe der 1980er Jahre sowohl baulich renovierungsbedürftig als auch infrastrukturell vernachlässigt waren und sich zunehmend sozial entmischt bzw. homogenisiert hatten, GWA für die sogenannten »sozialen Brennpunkte« oder »benachteiligten Wohngebiete« eingesetzt. Im Rahmen der sozialen Stadtentwicklungsprogramme wie »Soziale Stadt« (2008) werden »Gebiete mit besonderem Erneuerungs- bzw. Entwicklungsbedarf« ausgewiesen und administrativ festgelegt.
In den 1970er Jahren führten in Deutschland Forderungen nach Einmischung Sozialer Arbeit und Beteiligung von BürgerInnen an der Stadtplanung dazu, dass mehr Beteiligungsrechte im Baugesetzbuch aufgenommen wurden (Becker 2008: 444). Die Relevanz einer territorialen Perspektive Sozialer Arbeit für die Beurteilung und (präventive und korrektive) Bearbeitung sozialer Probleme, ergibt sich grundsätzlich aus der empirisch beobachtbaren Tatsache, dass sich globale, nationale und regionale Entwicklungen je nach gesellschaftlicher Bewältigungsstrategie mehr oder weniger auf lokaler Ebene in Form räumlicher Konzentrationen abbilden können. Gesellschaftliche Polarisierungs- und Spaltungsprozesse können zu räumlichen Konzentrationserscheinungen führen, die sich in wahrnehmbaren »Verlierer-« und »Gewinnerräumen« abzeichnen (Becker 2008). Erkenntnisse über Wirkungen räumlich-baulicher Strukturen auf Nutzungsqualitäten von territorial bestimmbaren Räumen und die Zusammensetzung der Bevölkerung in solchen Räumen, belegen die Bedeutung räumlich-baulicher Gestaltung von Siedlungsräumen (Farwick 2004). Nahräumliche Infrastruktur ist insbesondere für entfernungssensible Menschen, z. B. mit körperlichen oder finanziellen Mobilitätseinschränkungen, mitentscheidend für deren ökonomische, kulturelle und soziale Teilhabechance am gesellschaftlichen Leben. Gelegenheiten für soziale Kontakte beeinflussen die Bewältigungsmöglichkeiten von Menschen in schwierigen Lebenslagen. Die genannten Wirkungen und Effekte der »sozialwirksamen Raumstruktur« und »negativer Ortseffekte« werden in der Fachwelt nicht widerspruchslos geteilt, sondern mit Verweis auf unklare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in Frage gestellt (Ziegler 2011). Für die Untersuchung der komplexen Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und deren möglichen Auswirkungen in territorial bestimmbaren Räumen auf lokaler Ebene scheinen eindimensionale Ursache-Wirkungs-Vermutungen weder als Beleg noch als Gegenbeweis für (negative) »Ortseffekte« geeignet.
In Bezug auf die territoriale Perspektive von GWA wird auch Kritik an der »(Re)Territorialisierung des Sozialen« (Kessl/Otto 2007) geübt, d. h. an dem Versuch die Lösung sozialer Probleme in Gebieten mit benachteiligter Bevölkerung zu verorten, obwohl dort die geringsten Ressourcen zur Lösung vorhanden sind. Damit wird nicht nur die Annahme kritisiert, soziale Probleme ließen sich an ihren Erscheinungsbildern und Auswirkungen kurieren, sondern es wird auch eine Governance-Strategie angeprangert, die den ohnehin belasteten und benachteiligten Menschen die Lösung von Problemen, die sie nicht verursacht haben, aufbürdet und ihren Lebensraum obendrein auch noch als Problemgebiet stigmatisiert. Allerdings erweckt die Kritik an der »(Re)Territorialisierung des Sozialen« den Eindruck, eine territoriale Perspektive an sich sei das Problem und nicht die Fokussierung auf Problemgebiete bei gleichzeitiger Ausblendung der (Mit-)Verantwortung von (Stadt-)Gebieten mit guter Ausstattung an räumlichen und sozialen Ressourcen. Deshalb ist eine gesamtstädtische Betrachtung sozialer und räumlicher Aspekte im Rahmen einer integrierten (disziplin- und ressortübergreifenden) Stadt- und Quartierentwicklung angeraten, die die gesamte Stadt mit all ihren (Stadt-)Teilen und Quartieren und nicht nur die sogenannten Problemgebiete in den Blick nimmt und bearbeitet (entwickelt).
Nach den o. g. einschlägigen Definitionen sind »Gemeinwesen« (Stövesand u. a. 2013: 16) bzw. »soziale Netzwerke« (Galuske 2007: 101) neben territorial-geografischen Merkmalen auch nach funktionalen und/oder kategorialen Kriterien abgrenzbar. Von funktionaler Ausrichtung wird gesprochen, wenn Aufgaben wie die Verbesserung der Verkehrs- (Straßenführung, -lärm, ÖPNV-Angebot etc.), Versorgungs- (Einkaufsmöglichkeiten, Gesundheitsdienstleistungen etc.) oder sozialen Infrastruktur Arbeitsmöglichkeiten oder die Wohnsituation der Bevölkerung (Bausanierung, Miethöhen etc.) im Vordergrund stehen. Kategoriale Zugehörigkeit wird in der Fachliteratur verstanden als Arbeit mit Menschen unterschiedlicher personenbezogener Merkmale, wie z. B. Geschlecht, Ethnie, Alter etc.
Dieses Verständnis von GWA und deren Differenzierung nach territorialer, funktionaler und kategorialer Ausrichtung widerspricht gewissermaßen den o. g. Merkmalen des »Arbeitsprinzips GWA« nach Oelschlägel, wonach sich GWA ganzheitlich und themenübergreifend »… um alle Probleme des Stadtteils [kümmert] und (…) sich nicht auf einen Punkt [konzentriert] …« (2013: 191). Auch nach den Prinzipien stadtteilbezogener bzw. sozialraumbezogener Arbeit nach Hinte sind »Aktivitäten … immer zielgruppen- und bereichsübergreifend angelegt« (2007: 9). Dementsprechend wäre strenggenommen eine (kategoriale) Ausrichtung auf eine bestimmte »Zielgruppe« oder eine Konzentration auf einen bestimmten funktionalen Zusammenhang wie z. B. »Wohnen« mit den o. g. Prinzipien ganzheitlicher, themen- und Zielgruppen übergreifender Arbeit von GWA unvereinbar. Dieser Widerspruch wird auch im Handbuch GWA nicht aufgelöst, wenn beispielsweise nach der Aufzählung der als »Handlungsebenen« bezeichneten Differenzierung in territoriale, funktionale und kategoriale GWA festgestellt wird, GWA arbeite »… jedoch häufig eher zielgruppenübergreifend, themenbezogen und fallunspezifisch« (Stövesand u. a. 2013: 22). Wenn GWA, wie im Handbuch, als ein ganzheitliches, themen- und zielgruppenübergreifendes Konzept verstanden werden soll, kann dieses Konzept weder auf einen Gebietsbezug verzichten noch sich ausschließlich auf eine Funktion oder Kategorie von Menschen als AdressatInnen beschränken. Auflösen ließe sich dieser Widerspruch, wenn klar getrennt würde zwischen einem Konzept für GWA und GWA als Arbeitsfeld. Während ein Konzept für GWA auf Basis theoretisch und empirisch fundiertem Erklärungswissen die Gesamtheit programmatischer Aussagen, Handlungsprinzipien und Arbeitsweisen bereitstellen muss, kann GWA als Arbeitsfeld Schwerpunkte je nach situativer Gegebenheit und Interessen der Bevölkerung territoriale, funktionale und kategoriale Schwerpunkte setzen, die jedoch grundsätzlich veränderbar sein und stets reflektiert und angepasst werden müssten.
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