Die Studentin zeigte sich unbeeindruckt.
»Und jetzt wollen Sie die Struktur dieses einfachen Moleküls bestimmen?«, fragte sie mit einem ironischen Blick aufs Spektrometer.
Er schüttelte lachend den Kopf. »Die könnte ich im ›Beyer‹ nachschlagen. Nein, junge Dame, was das Instrument gerade analysiert, bleibt mein Geheimnis.«
»Na dann viel Erfolg.«
»Danke, werde ich haben«, murmelte er, während sie zur Tür hinaus rauschte.
Von hinten erinnerte sie entfernt an die Süße mit den Fransen, die ihm in der Cafeteria verstohlene Blicke zugeworfen hatte, wie er glaubte. Er wandte sich mit einem leisen Seufzer wieder dem Computerbildschirm zu, auf dem er den Fortschritt der Analyse kontrollieren konnte. Die Probe im Spektrometer gehörte tatsächlich zum bestgehüteten Betriebsgeheimnis der ›Herzog Green Chemicals‹. An der Struktur dieses Enzyms entschied sich, ob ihre junge Firma eine Zukunft hatte oder nicht. Das Molekül mit dem komplexen räumlichen Aufbau wirkte als Katalysator bei der Herstellung von Bernsteinsäure aus Stroh und anderen Zelluloseabfällen durch die eigens zu diesem Zweck programmierten Bakterien. Ohne Katalysator würde der Traum einer ›weißen Biotechnologie‹ nicht in Erfüllung gehen. Trotz unsicherer Rohstoffversorgung und schwankender Preise bliebe die klassische Herstellung von Basischemikalien und Kunststoffen durch petrochemische Verfahren attraktiver. Nachwachsende Rohstoffe statt Erdöl und Erdgas würden auf absehbare Zeit eine unbedeutende Randerscheinung bleiben. Das Molekül in diesem Spektrometer war die Zukunft – sofern die räumliche Struktur bis in alle Einzelheiten stimmte.
Er blickte auf die Uhr: halb eins. Die Analyse würde eine weitere Stunde in Anspruch nehmen. Er schaltete die Bildschirmanzeige aus und klebte Zettel an Computer und Spektrometer: Besetzt bis 15:00 Uhr, Dr. F. Buchmacher, dann verließ er das Labor. Der Zeitpunkt war günstig. Er schätzte die Chance auf über fünfzig Prozent, die blonden Fransen in der Cafeteria anzutreffen.
Er knabberte unruhig an einem Käsesandwich, dessen Semmel von letzter Woche stammte. Hin und wieder schlürfte er kalten Kaffee aus einem Pappbecher, um nicht zu ersticken. Er benutzte die traurigen Relikte nur als Tarnung, damit er nicht auffiel, während er das Uni Volk beobachtete. Sie ließ sich Zeit. Eine halbe Stunde verstrich ohne Fransen. Er nippte am leeren Kaffeebecher, unschlüssig, ob er diskret nach ihr fragen sollte. Erst als dieser verwegene Gedanke zwischen all den gefalteten Eiweißen in seinem Gehirn auftauchte, stellte er fest, dass er nichts über sie wusste, gar nichts. Außer dem liebenswürdigen Gesicht mit den Fransen gab es nichts, womit er sie hätte beschreiben können. War sie eine Studentin? Arbeitete sie in der Verwaltung? Wie hieß sie? Wie alt war sie? War sie schon vergeben? Fragen über Fragen und keine Antworten. Er kaute weiter an seinem Pappbecher und wartete.
Eine kleine Gruppe Studenten, zwei Männer, zwei Frauen, setzte sich eifrig diskutierend an einen Tisch am Fenster. Einer sprach ein Dezibel lauter als die andern. Felix verstand nur das Wort »Demo«, passend zu dem Typen im grünen T-Shirt, das lose an ihm flatterte, als wäre er nach dem Kauf vor Jahren in Hungerstreik getreten. Der Vortrag des Eiferers interessierte ihn nicht, wohl aber die Tatsache, dass er ihn einmal in Begleitung der Fransen gesehen hatte. Hoffnung keimte auf. Er erhob sich, um den Redefluss der Vogelscheuche mit seiner Frage zu stoppen, da stand sie unvermittelt am Eingang, Bücher unter dem Arm und heftig atmend. Sie steuerte stracks auf die Gruppe zu, wechselte einige hastige Worte, machte kehrt und eilte wieder hinaus. Mit der Geistesgegenwart des Verzweifelten stellte er sich ihr in den Weg. Der Zusammenstoß war kaum spürbar, verlieh dem zarten Geschöpf aber einen Drehimpuls, dass ihr Bücher und Notizen entglitten. Er entschuldigte sich wortreich, während er nach ihren Sachen tauchte. Ihre Blicke trafen sich zum ersten Mal richtig, länger als eine Millisekunde.
»Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht«, sagte er. »Es tut mir leid. Kann ich es mit einem Kaffee wiedergutmachen?« Er glaubte, sein Herz pochen zu hören, als er die Hand ausstreckte und verlegen zu lächeln versuchte. »Felix.«
»Sarah«, hauchte sie, senkte den Blick und huschte davon.
»Mit oder ohne H?«, murmelte er mit sturem Blick.
Sie war verschwunden, als sich der Verstand wieder einschaltete. Immerhin hatte er drei Dinge gelernt. Er kannte jetzt ihren Namen, wenn er ihn auch nicht mit Sicherheit richtig schreiben konnte. Zweitens duftete sie ebenso gut, wie sie aussah und drittens – das Wichtigste – errötete sie, als sie sich gegenüberstanden. Die Vorstellung, eine Chance bei ihr zu haben, verlieh ihm Flügel. Er rannte auf den Ausgang zum Parkplatz zu, wo er sie vermutete. Keine der Blondinen war seine. Enttäuscht stieg er ins Auto. Der Motor lief schon, als die Erinnerung ans Spektrometer zurückkehrte. Seufzend stellte er den Motor ab und stieg wieder aus. Felix, dich hat es schlimm erwischt. Es war das Vierte, was er an diesem Tag lernte: Möglicherweise gab es noch andere Dinge im Leben als gefaltete Moleküle.
Maria parkte vor dem Schuppen neben dem Haus in Wollmatingen, der alles enthielt, was in den wenigen Büros und im Labor der Firma ›Herzog Green Chemicals‹ nicht Platz fand. Die Nachwuchs-Akademiker, die hier ihr Praktikum absolvierten oder etwas Geld fürs Nachdiplomstudium und die Doktorarbeit verdienten, saßen an ihren Computern. Im Labor sah sie nur den Laboranten.
»Wo ist Felix?«
Der junge Mann unterbrach die Arbeit am Spülbecken und zuckte die Achseln.
»An der Uni nehme ich an.«
»Was – immer noch?«
Das Enzym musste eine sehr komplexe Struktur haben. Sie bat den Laboranten, ihr beim Ausladen zu helfen. Stroh war ein leichter Werkstoff, solang man es nicht zu Ballen presste.
Ein feines Stimmchen unterbrach wenig später ihre Arbeit im Schuppen:
»Was machst du?«
Emmas kleiner Sohn Julian stand neben dem Minivan. Er erkannte das rote Auto seiner Tante Maria von Weitem. Sie legte die Baumschere weg, mit der sie das Gebinde des einen Strohballens auftrennen wollte.
»Wo kommst du denn her, mein Großer?«
Er sprang in ihre Arme, um sich sogleich zu befreien, als sie ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange drückte. Im nächsten Atemzug saß er auf dem Stroh und fragte:
»Was machst du damit?«
»Weißt du überhaupt, was das ist?«
»Ein Bett.«
Zum Beweis legte er sich darauf und schloss die Augen. Der Junge war schon jetzt nie um eine Antwort verlegen, wie seine Mutter.
»Als Bett kann man es auch brauchen, das stimmt«, gab sie lachend zu. »Früher haben viele Leute auf Stroh geschlafen. Heute tun es meist nur noch Pferde und Ponys.«
»Ponys sind doof«, rief er und sprang auf.
Die Baumschere weckte sein Interesse. Sie war schneller und brachte das gefährliche Werkzeug in Sicherheit. Er ließ nicht locker.
»Was machst du damit?«
»Mit der Schere schneide ich die Schnüre auf, die das Stroh zusammenhalten.«
Sie zeigte es ihm, sorgsam darauf bedacht, ihn auf Abstand zu halten. Der Junge war flink wie ein Wiesel.
»Warum?«
»Ich muss das Stroh auseinandernehmen und dann zerkleinern.«
»Warum?«
»Unsere kleinen Tierchen im Labor können Strohschnipsel besser essen.«
»Die Tierchen im Fernsehen?«
»Ja, die Bakterien, die ich dir auf dem Computerbildschirm gezeigt habe.«
»Die essen das?«
Er kaute auf einem Halm und spuckte ihn angewidert aus.
»Die Bakterien machen aus dem Stroh wertvolle Sachen – wie Rumpelstilzchen.«
Der Vergleich war ihr ungewollt entschlüpft. Statt weiterarbeiten zu können, besaß sie jetzt seine volle Aufmerksamkeit.
»Wer ist Rummelpilzchen?«
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