Eine junge Frau drückte ihr ein Flugblatt in die Hand, wie um die Frage des Kollegen zu beantworten.
»Den Film müsst ihr euch unbedingt ansehen«, sagte sie, während sie fleißig weiter Flugblätter verteilte.
DIE FRACKING LÜGE DEMO!
stand als Überschrift auf dem Zettel, darunter ein paar Schlagzeilen, die sie nicht zum ersten Mal sah:
Gift im Grundwasser!
Fracking Chemikalien erzeugen Krebs!
Brennendes Trinkwasser!
Wohin mit dem giftigen Rückfluss?
Wollt ihr mehr Erdbeben?
Noch ein Desaster wie die Kernkraft?
Clean Fracking ist eine Lüge!
Fucking statt Fracking!
Demo Freitag 11:00 Uhr
»Ziemlich aufgeheiztes Klima«, flüsterte Hinz ihr zu.
»Gut für uns. Augen auf, Hinz. Uns interessieren die Wortführer und Organisatoren der Demo. Knipsen Sie unauffällig und sammeln Sie Namen. Am besten teilen wir uns auf. Sie folgen der Demo, ich ermittle in der Uni.«
Sie sah ihm an, dass er sich am liebsten augenblicklich in seine dunkle Ecke verkrochen hätte, aber er wagte nicht zu widersprechen. In der Aula lief der Film ›Gasland‹, eine Dokumentation des Amerikaners Josh Fox über die Folgen des Fracking Booms in vier US-Bundesstaaten. Drastische Szenen wie aus einem Katastrophenfilm wurden mit Buhrufen quittiert: explodierende Brunnen und Häuser, Trinkwasser, das so viel Erdgas enthielt, dass es brannte, als hätte jemand Wasser- und Gasleitung vertauscht, Haustiere mit plötzlichem Haarausfall, Klärschlamm als Grundwasser, vom zuständigen Konzern als unbedenklich eingestuft. Sie kannte den Film, hatte selbst erlebt, wie leicht auch ein kritischer Geist durch die drastischen Bilder und Einzelschicksale Augenmaß und Objektivität verlieren konnte. Glaubte man den Bildern auf der Leinwand, musste man unausweichlich zum Schluss kommen, Fracking wäre vom Teufel persönlich erfunden worden, um die Menschheit zugrunde zu richten. Sie las Verwirrung, Abscheu und Entrüstung in vielen Gesichtern. Nur wenige Zuschauer zeigten sich unbeeindruckt. Ein spindeldürrer Typ in flatterndem grünem T-Shirt bemächtigte sich des Mikrofons, kaum war die letzte Abblendung über die Leinwand geflimmert.
»Leute, wir dürfen nicht länger schweigen!«, brüllte er in den Saal, dass es draußen durch die Gänge hallte. »Wir wissen jetzt, was Fracking anrichtet. Wir wollen diese Sauerei vor unserer Haustür unter keinen Umständen zulassen. Probebohrungen nennen sie das, was in Überlingen geschieht, dabei hat die NAPHTAG schon ganze Landstriche unter Kontrolle. Wir sagen: Wehret den Anfängen! Schnappt euch den Flyer mit unsern Schlachtrufen und ein Transparent am Ausgang. Auf dem Parkplatz und bei der Bushaltestelle gibt‘s Mitfahrgelegenheiten. Wir versammeln uns auf der Marktstätte beim Bahnhof. Um elf geht‘s los. Auf in den Kampf!«
»Auf in den Kampf!«, erscholl es vereinzelt aus dem Publikum.
Es war nicht gerade der Sturm auf die Bastille, aber der Hagere hatte doch genügend Wir-Gefühl verbreitet, dass der Großteil der Versammelten dem Aufruf folgte. Sie versuchte vergeblich, den Wortführer abzufangen. Seine Entourage erwies sich als undurchdringlich. Eine junge Frau stand etwas abseits, verächtlich den Kopf schüttelnd angesichts der Aufregung. Chris näherte sich unauffällig und fragte:
»Wer ist der Spinner?«
Die Frau zuckte die Achseln. »Ich kenne ihn nur als ›die Krähe‹.«
»Das passt«, sagte Chris lachend. »Ganz unrecht hat er ja nicht mit seinen Schreckensvisionen.«
»Ja schon, aber wir befinden uns doch nicht im Krieg. Er ist voll überzeugt, sie hätten Barbarossa gekillt.«
»Ich dachte, der wäre schon vor ein paar Hundert Jahren gestorben.«
Sie sagte es nur, um Zeit zu gewinnen. Bis sie begriff, worüber die junge Dame sprach, hatte die sich einem Kommilitonen zugewandt. Chris erinnerte sich: Barbarossa war der Spitzname des Umweltaktivisten Thorsten Kramer.
»Die Krähe ist einer von Kramers Leuten?«, fragte sie hastig.
Sie bekam keine Antwort. Das Pärchen entfernte sich und verschmolz mit der Masse.
Mit Transparenten und Tröten bewaffnet, setzten sich die Fracking Gegner in die Fahrzeuge und fuhren ab Richtung Innenstadt, begleitet von einem ansehnlichen Aufgebot der Stadtpolizei. Sie konnte sich nur wundern über die professionelle Organisation und Vorbereitung der Demo. Wer steckte dahinter? War dies die Handschrift der Gruppe Gaia? Sie rief Hinz an. Nachdem sie ihm die Krähe besonders ans Herz gelegt hatte, entschloss sie sich, ins Hotel zurückzukehren, um die gesammelten Informationen durch den BKA-Computer zu schicken.
Zwei Kollegen der Stadtpolizei standen mit einem älteren Mann im blauen Overall am Eingang. NAPHTAG = KILLER hatte jemand in schwarzer Farbe an die Wand gesprüht. Sie fand den Text nicht so spannend wie die Sonnenblume, dem Gerücht nach das Logo von Gaia. Vielleicht ein Trittbrettfahrer – vielleicht auch nicht. Sie war der geheimnisvollen Gruppe noch nie so nah gewesen, und doch wurde sie das Gefühl nicht los, bei jedem Griff ins Leere zu fassen.
Der Eindruck verstärkte sich während der Arbeit am Computer. Einzig die Identität der Krähe spuckte die BKA-Datenbank nach nervtötender Suche aus. Der Name Markus Hansen sagte ihr nichts, aber der Mann war aktenkundig wegen massiv überhöhter Geschwindigkeit in einem Kölner Vorort, wo er vor dem Studium gewohnt hatte. Also doch nicht so grün, das grüne T-Shirt. Herr Hansen war fällig für ein längeres Gespräch auf dem Präsidium. Sie griff zum Telefon, zögerte und legte es wieder weg. Ein Fanatiker wie Hansen würde nur unter massivem Druck auspacken, und dazu fehlten die rechtlichen Mittel. Es gab eine bessere Möglichkeit, mehr über die Gruppe Gaia und den flüchtigen Kramer alias Barbarossa zu erfahren. Das andere Flugblatt lag immer noch im Instrumentenkoffer. Open Stage in der ›Blechnerei‹, Frei-tagnacht. Der halbe Campus würde sich dort versammeln, und heute war Freitag.
Wegen der musikalischen Qualität der Darbietung auf der offenen Bühne hätte sie sich die Nacht in der ›Blechnerei‹ sparen können. Als Erstes fiel ihr der Mangel an Rhythmusgefühl des Trios auf, als Nächstes der Blasse mit den roten Wangen, dem sie den Flyer verdankte.
»Wo ist dein Saxofon?«, fragte er konsterniert.
»Ich will mich erst umhören.«
»Jammerschade.« Er wiegte ein paar hölzerne Takte mit der Musik. »Cool, was?«
Sie zog es vor, nicht zu antworten. Stattdessen blickte sie sich nach weiteren bekannten Gesichtern um. Hinz hatte ein halbes Dutzend Männer und Frauen abgelichtet, die möglicherweise zu den Organisatoren gehörten und nicht auf der offiziellen Liste der Behörde standen, welche die Demo bewilligt hatte.
»Suchst du jemanden?«
»Die Krähe.«
Er lachte verächtlich. »Was willst du denn von dem? Der linke Spinner würde sich nie hierher verirren, viel zu bourgeois für den. Komm lieber an unsern Tisch.«
Ihre Stimmung sank auf den Nullpunkt. Die Annahme, Hansen und seine Jünger hier zu treffen, erwies sich als Irrtum. Sie hatte um ziemlich genau 180° falsch gedacht. An diesem Abend versammelten sich nicht die Grünen und Linken in der ›Blechnerei‹, sondern die wirtschaftsfreundliche Sektion, BWL- und Jus-Studenten, Ökonomen und allerlei Arrivierte. Enttäuscht wollte sie das Lokal verlassen, als sie eine Bemerkung des Blassen zurückhielt:
»Dieses Gaia Pack geht mir so was von auf den Geist.«
»Was ist Gaia?«
»Das willst du lieber nicht wissen.«
Am Tisch des Blassen war schon reichlich Alkohol geflossen, was die Zungen löste. Das Schlagwort Gaia beschwor eine unerwartet heftige Attacke auf das »grüne Gesindel« herauf.
»Die haben die Demo doch nur organisiert, um den Sprengstoffanschlag zu rechtfertigen«, lallte einer, der sich nicht zwischen zwei Biergläsern entscheiden konnte und deshalb aus beiden trank.
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