1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Ingenieur Kolbe hatte das Versuchsgelände verlassen, als sie zurückkehrte. Sie benutzte die Gelegenheit, die Techniker an den Bohrtürmen direkt zu befragen. Beim Rundgang mit Kolbe war ihr der große, offenbar unbenutzte Vorrat an Bohrgestängen und Förderrohren aufgefallen. Sie suchte sich den Arbeiter aus, der sich am brennendsten für sie zu interessieren schien.
»Wie es aussieht, sind die Löcher noch nicht tief genug«, scherzte sie.
Der Scherz war offenbar gelungen. Er lachte herzhaft.
»Es täuscht«, sagte er mit dem Blick aufs Materiallager. Er neigte sich zu ihr herüber, dass sein Mund ihr Ohr beinahe berührte und flüsterte: »Der Herr Ingenieur hat sich verrechnet.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Wir sind schon in einer Tiefe von 2‘000 Metern auf ergiebige Schichten gestoßen.«
»2‘000 Meter, aha. Das ist aber ein ganz schön tiefes Loch.«
Er fand auch diese Bemerkung außerordentlich erheiternd.
»Sie haben keinen Schimmer von unserer Arbeit, was?«, platzte er heraus. »Zwei Kilometer sind gar nichts. Normalerweise treiben wir über vier Kilometer vor.«
3‘000 Meter war die gesetzlich erforderliche Minimaltiefe für solche Bohrungen. Das schien der Techniker nicht zu wissen. Kolbe wusste es ganz bestimmt. In seinen Protokollen war die Tiefe mit unbedenklichen 4‘500 Metern angegeben. Sie glaubte nicht an ein Versehen.
Hinz und Rappold hatten die Befragungen abgeschlossen. Die Überprüfung der Alibis für die Tatnacht würde einige Zeit dauern, ebenso wie die noch ausstehenden telefonischen Befragungen der externen Mitarbeiter und Zulieferer. Die bisherigen Ermittlungen ergaben kein einheitliches Bild. Nichts wies eindeutig in die Richtung eines Insider Jobs.
Hinz überraschte sie. Er hatte nicht nur Fotos aller Anwesenden geschossen, sondern auch die Autos auf dem Parkplatz abgelichtet und sie den Angestellten zugeordnet. Der Junge besaß Potenzial.
»Leider keine verdächtigen Fahrzeuge«, fasste er zusammen.
Nicht überraschend: Seine Aktion erfolgte einige Tage zu spät. In der Tatnacht war keinem Kollegen eingefallen, die anwesenden Autos zu kontrollieren.
»Wir fahren dann mal zurück«, sagte Rappold.
Die beiden saßen schon im Wagen, als laute Rufe und Flüche ihre Aufmerksamkeit auf die Förderköpfe lenkten. Dampf zischte pfeifend aus einem Ventil. Arbeiter flüchteten. Warnrufe scheuchten auch die letzten zwei Techniker von ihrem Arbeitsplatz. Der Druck von 400 bar sprengte das defekte Ventil. Es explodierte mit lautem Knall. Geschosse aus Gusseisen schwirrten durch die Luft wie gigantische Querschläger. Alarmsirenen schalteten sich ein. Mitten im Durcheinander entdeckte sie hinter dem Bohrgestänge am Rande des Versuchsgeländes ein geparktes Auto, das Hinz weder erwähnt noch auf einem Foto gezeigt hatte. Sie musste die Unglücksstelle mit dem geplatzten Ventil weiträumig umgehen, um zum Fahrzeug zu gelangen. Von Weitem sah sie eine Gestalt darauf zu laufen.
»Halt, Polizei, bleiben Sie stehen!«, schrie sie aus Leibeskräften.
Die tosende Schlammfontäne, die aus dem Leck in den Himmel schoss, übertönte alle Rufe. Sie verlor die Gestalt für kurze Zeit aus den Augen. Das Rohrlager versperrte den Weg. Fluchend rannte sie ums Hindernis herum. An der Ecke schoss die Schaufel eines Radladers wie das aufgerissene Maul einer Bulldogge auf sie zu. Ein Satz zur Seite in einen Sandhaufen rettete sie in letzter Sekunde.
»Alles in Ordnung?«, rief der Fahrer, ohne anzuhalten.
Er bremste nur leicht ab und beschleunigte sogleich wieder, als er sah, wie sie sich aufraffte. Wütend schüttelte sie den Sand aus den Kleidern, dann rannte sie weiter, den Puls auf hundertachtzig.
Die Gestalt war verschwunden, das Auto auch. Mann oder Frau? Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Wagentyp und Kennzeichen blieben unbekannt. Eine schwarze oder dunkelblaue Limousine – mehr hatte sie nicht gesehen. Zu wenig für eine Fahndung, und die Verfolgung war zwecklos. Eine Stunde und unzählige Fragen später war sie kein bisschen schlauer. Niemand wollte den Unbekannten gesehen haben, aber es gab ihn oder sie, immerhin eine neue Erkenntnis.
Der rote Minivan hielt unterhalb des Hügels an. Von hier aus lag einem das ganze Klostergut zu Füßen. Die Luft flimmerte über den abgeernteten Feldern. In der Ferne glitzerte das schmale, silberne Band des Überlingersees. Maria Herzog stieg aus und atmete die trockene Landluft ein, die wie immer um diese Jahreszeit nach frischem Stroh roch. Sie war froh, wenigstens von ihrem Lieblingsplatz aus keine Bohrtürme zu sehen und das Summen der Pumpen nicht zu hören. Die Landschaft und das alte Gemäuer des Klosters hatten sich nicht verändert, seit sie als kleines Mädchen zum ersten Mal auf diesem Platz gestanden hatte. Die Zeit war stehen geblieben. Das erfüllte sie jedes Mal mit einer inneren Ruhe, die sie sonst im Alltag nicht kannte.
Die Marienglocke kündigte das mittägliche Angelusläuten mit drei bedächtigen Schlägen an. Sie war nicht religiös. Dafür war ihr Gehirn zu rational verdrahtet, aber die Jahre im katholischen Waisenhaus und Internat hatten ihr diese Kultur eingeimpft. Für sie war das Glockengeläute ein Stück Heimat wie der Bodensee oder der Zeppelin, der am stahlblauen Himmel surrend seine Runden drehte.
Bauer Weber war auf dem Weg in die Scheune. Seine Maschinen ruhten über Mittag wie früher die Landarbeiter. Er sprang vom Traktor, als sie auf den Hof fuhr.
»Da schau her, die Maria«, rief er freudig.
Für ihn war sie immer noch das Mädchen, das fast jede freie Minute auf dem Hof verbrachte. Er war der Herr Weber geblieben.
»Na, brauchen deine Pferde wieder Stroh?«, fragte er lachend.
Er wusste, dass ihre Pferde mikroskopisch kleine Lebewesen waren, die das Stroh schneller fraßen als ausgewachsene Pferde das Gras. Vorstellen konnte er sich dennoch nichts unter ihrer Arbeit.
»Sie lachen, Herr Weber, aber die Nachbarn haben uns tatsächlich schon gefragt, wann endlich die Pferde kämen.«
»Kann ich gut verstehen.«
Er half ihr, die zwei Strohballen ins Auto zu laden. Bald würde die ›Herzog Green Chemicals AG‹, ihre kleine Start-up Firma, mit einem Lkw vorfahren. Der Sprung vom Forschungslabor zur industriellen Produktion war endlich in Sichtweite gerückt. Sie war überzeugt, den endgültigen Durchbruch in den nächsten Tagen, höchstens Wochen, zu schaffen. Für sie und ihre Forscherkollegen, allen voran Felix Buchmacher, Mitbegründer und unverzichtbarer Partner, würde ein Lebenstraum in Erfüllung gehen. Ein Traum, an den auch die privaten Investoren glaubten, deren Risikokapital ihren Betrieb am Leben erhielt. Sie würden reich belohnt werden, daran zweifelte sie keinen Augenblick.
Bauer Webers Frage unterbrach ihre Gedanken.
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Wie bitte – nein, Entschuldigung.«
»Ihr Akademiker seid ein zerstreutes Volk«, sagte Weber kopfschüttelnd. »Ich habe gesagt, das Stroh koste diesmal nichts.«
»Kommt nicht infrage.«
»Willst du Streit?«, lachte er.
»Was halten Sie davon, wenn ich diese zwei Ballen bezahle, dafür die nächste Ladung geschenkt erhalte?«
Er musterte sie misstrauisch. »Da steckt sicher einer deiner schlauen Schachzüge dahinter.«
»Abgemacht?«
Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er schlug zögernd ein.
»Vielen Dank, die nächste Ladung holen wir nämlich mit dem Lkw ab.«
Sie nahm den Handel nicht ernst, er offenbar auch nicht. Mit den Schultern zuckend, sagte er:
»Ich wusste es. Gegen euch Studierte ist kein Kraut gewachsen. Aber egal, vielleicht stehst du das nächste Mal sowieso vor einer leeren Scheune.«
»Wie das?«
»Ich weiß nicht, wie lang der Prior dem Druck der Fracking Mafia noch standhält. Das Kloster ist alles andere als auf Rosen gebettet, und nach der miserablen Ernte im letzten nassen Sommer herrscht Ebbe in der Kasse. Ich müsste dringend das Gebläse erneuern und das Dach ausbessern lassen, aber dafür fehlt das Geld.«
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