Der das Zeugnis ausstellende Linienvorgesetzte (der disziplinarische Vorgesetzte) hat keinen ausreichenden Einblick in die Einzelleistung des Teammitglieds – für eine personenbezogene Beurteilung über einzelne Teammitglieder kommen auch der Scrum-Master oder Product-Owner nicht in Betracht, da sie nicht Vorgesetzte der Team-Mitglieder sind; wären sie an Beurteilungen beteiligt, hätten sie herausgehobene Funktionen, die aber in der hierarchielosen Arbeitsweise bei Scrum ausgeschlossen sind.
Im selben Maße, wie das fachliche Direktionsrecht reduziert wird, verringert sich auch die Basis für Beurteilungen (dem Scrum-Verfahren abträglich und zeugnisrechtlich abwegig wäre es, die Beurteilung etwa durch die Teammitglieder (Kollegen) fertigen zu lassen).
Das ArbG Lübeck führte nicht aus, welche Grundlagen für die Beurteilung vorhanden waren, von wem der diszplinarische Vorgesetzte die nötigen Informationen erhalten hat.
Nach allem käme bei Betriebsangehörigen nur das einfache Zeugnis in Betracht.
5. Nichtiges Arbeitsverhältnis
121
Ein Beschäftigungsverhältnis kann nichtig sein bei Gesetz- oder Sittenwidrigkeit (Schwarzarbeit, Lohnwucher), beim Formmangel und Scheingeschäft oder im Falle der Anfechtung wegen Irrtums oder arglistiger Täuschung.
Bei Nichtigkeit ist das Arbeitsverhältnis von Anfang an ungültig, ebenso nach der Anfechtung (§ 142 BGB). Ist aber während der Zeit der Ungültigkeit tatsächlich und einvernehmlich, aber ohne Rechtsgrundlage gearbeitet worden, so ist für die Frage der Zeugniserteilung zu unterscheiden:
122
Die Rückabwicklung eines in Vollzug gesetzten Beschäftigungsverhältnisses ist kompliziert, es sind auf beiden Seiten Pflichten begründet worden, die für die verflossene Zeit durchweg nicht beseitigt werden können – ist die Arbeitsleistung erfolgt, dann wird von
„ einem faktischem (besser: „fehlerhaften“) Arbeitsverhältnis gesprochen. Die Nichtigkeit eines Arbeitsverhältnisses hat in der Regel keine rückwirkende Kraft. Es ist für den Zeitraum, in dem es trotz der ihm anhaftenden Mängel in Funktion gesetzt war, wie ein fehlerfreies zustande gekommenes Arbeitsverhältnis zu behandeln. “103
Die Rückabwicklung des Vertrages und Rückzahlung der geleisteten Vergütung findet also entgegen der gesetzlichen Regelung nicht statt; da das Arbeitsverhältnis wie ein korrektes behandelt wird, kommt ein Zeugnis als quasi-vertraglicher Anspruch bzw. aus Gründen des Vertrauensschutzes104 in Betracht.
123
Können hingegen dem Arbeitnehmer, der ein Zeugnis beantragt, persönlich erhebliche Vorwürfe gemacht werden im Hinblick auf den fehlerhaften Arbeitsvertrag bzw. stehen gewichtige Interessen der Allgemeinheit dem Vertragsinhalt entgegen – dann erfolgt eine Rückabwicklung und das Zeugnis entfällt, z.B.
• Wurde die Einstellung mithilfe eines gefälschten Zeugnisses durch arglistige Täuschung erreicht105 (siehe hierzu Rn. 42), so erhält der Arbeitnehmer im Falle der Anfechtung des Arbeitsvertrages für die durch Täuschung erreichte Beschäftigungszeit kein Zeugnis. Denn wer arglistig handelt, dem kann nicht gestattet werden, dass er sich auf die durch seinen Betrug veranlasste Beschäftigungsdauer berufen kann und Vorteile zieht, indem diese erschlichene Zeit noch dokumentiert wird für Zwecke künftiger Bewerbungen. Die Tätigkeit wird zeugnisrechtlich so behandelt, als wenn sie nicht stattgefunden hätte, und dann gibt es nichts zu dokumentieren.
• Das Zeugnis entfällt auch bei gesetzwidrigen Geschäften, bei denen die Arbeitsleistung also solche nach ihrer Art rechts- und gesetzeswidrig, die Vertragserfüllung verbotswidrig ist und der Leistungserfolg von der Rechtsordnung missbilligt wird.106 Wer sich außerhalb der Rechtsordnung stellt, kann nicht erwarten, dass seine Tätigkeit mit der Zeugnis-Dokumentation gewissermaßen legalisiert wird.Des Weiteren gibt es kein Zeugnis bei Nichtigkeit des Vertrages wegen Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) und bei Scheingeschäften (§ 117 BGB, es sei denn, das verdeckte Geschäft bietet die Grundlage für ein Zeugnis).
124
Das LAG Hamm107 hatte einen speziellen Fall zu entscheiden:
Der Beklagte schloss mit einer Frau (die Grundsicherung für Arbeitssuchende bezog) zum Schein einen Arbeitsvertrag als Hauswirtschafterin, tatsächlich lag ein Prostitutionsvertrag zugrunde (sogenanntes Sugar-Daddy-Verhältnis). Als das Verhältnis gelöst wurde, verlangte die Frau ein Arbeitszeugnis, auf das sie nach Meinung des Gerichts gemäß § 109 GewO Anspruch hätte – dieses Ergebnis ist zweifelhaft:
Ein Zeugnis für die Tätigkeit als Hauswirtschafterin scheidet aus, da der Arbeitsvertrag als Scheinvertrag nichtig war, die Frau erbrachte auch keine Arbeitsleistung als Wirtschafterin (was ohnehin nicht vorgesehen war).
Auch ein Zeugnis für die sexuellen Dienstleistungen entfällt: Abgesehen davon, dass sexuelle Dienstleistungen hinsichtlich „Leistung und Verhalten“ schwierig zu beurteilen und zu formulieren sind (!), ist nach dem Prostitutionsgesetz nur das Entgelt von der „Sittenwidrigkeit“ ausgeschlossen, die restlichen Vereinbarungen sind nach § 138 BGB nichtig (umstritten), und für sittenwidrige Geschäfte gibt es kein Zeugnis. Außerdem wird eine im Wesentlichen unabhängige (siehe § 3 Prostitutionsgesetz) und auch finanziell nicht abhängige Prostituierte in dieser besonderen Vereinbarung eines Sugar-Daddy-Verhältnisses eher einer freien Dienstleisterin zuzuordnen sein und aus diesem Grund kein Zeugnis erhalten (siehe Rn. 86).
93LAG Köln, 30.3.2001 (4 Sa 1485/00), BB 2001 S. 1959 (Zeugnis bejaht bei 6-wöchiger Beschäftigung). 94ArbR-BGB (Eisemann), Rn. 8. Das LAG Düsseldorf (14.5.1963 – 8 Sa 177/63 – BB 1963 S. 1216 = DB 1963 S. 1260) hatte bei einem langfristig angelegten, jedoch bereits nach 2 Tagen beendeten Arbeitsverhältnis den Anspruch auf ein qualifiziertes Zeugnis bejaht! 95Reichsgericht, 6.12.1890, amtliche Sammlung in Zivilsachen, Band 27 S. 223. 96BGH, 31.3.1967 (VI ZR 288/64), NJW 1967 S. 1416; siehe auch BAG, 12.7.2006 (5 AZR 277/06), BB 2006 S. 2199, unter Hinweis auf die BGH-Rechtsprechung. 97LAG Hamm, 24.5.1989 (15 Sa 18/89), BB 1989 S. 1759. 98BAG, 27.7.2010 (3 AZR 317/08), BB 2010 S. 3147 = DB 2011 S. 943 = ArbRB 2010 S. 361. 99So im Fall des BAG, 1.12.2020 (9 AZR 102/20), Pressemitteilung Nr. 43/20. 100LAG Frankfurt, 14.2.2019 (10 Sa 350/18). 101A. A. ErfK (Müller-Glöge), Rn. 2b = Anspruch auf ein einfaches Zeugnis. 102ArbG Lübeck, 22.1.2020 (4 Ca 2222/19), BB 2020 S. 627 (das Berufungsverfahren endete beim LAG Kiel (4 Sa 113/20) durch Vergleich). 103BAG, 3.11.2004 (5 AZR 592/03), BB 2005 S. 782 = DB 2005 S. 1334 = NZA 2005 S. 1409 = AP BGB § 134 Nr. 25. 104ArbR-BGB (Eisemann), Rn. 10. 105BAG, 3.12.1998 (2 AZR 754/97), BB 1999 S. 796 = DB 1999 S. 852 = NZA 1999 S. 584 = AP BGB § 123 Nr. 49. 106BAG, 3.11.2004 (5 AZR 592/03), BB 2005 S. 782 = DB 2005 S. 1334 = NZA 2005 S. 1409 = AP BGB § 134 Nr. 25. 107LAG Hamm, 6.6.2019 (17 Sa 46/19).
V. Beantragung des Zeugnisses
1. Die Antragstellung
125
Bei den Zeugnisvorschriften geht es ziemlich durcheinander bei der Frage, ob das Zeugnis zu beantragen oder automatisch, also ohne Antrag auszustellen ist.
126
Das einfache Zeugnis ist auszufertigen:
• automatisch bei Arbeitnehmern (§ 109 Abs. 1 GewO) und in der Berufsbildung (§ 16 BBiG),(Rätselhaft ist, warum nach § 109 GewO das einfache Zeugnis automatisch zu erteilen ist, während die Vorgängervorschrift des § 113 GewO dies sinnvollerweise nur auf Antrag vorsah; eine Begründung für dieses Abweichen gibt es nicht, obwohl in der amtlichen Begründung behauptet wird, diesbezüglich entspreche die neue Regelung der bisherigen108),
Читать дальше