Tim Jonathan Hammann
Der Mann im Regen
Eine Geschichte der Hoffnung
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Inhaltsverzeichnis
Titel Tim Jonathan Hammann Der Mann im Regen Eine Geschichte der Hoffnung Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog – Der Archivar
Teil 1 – Vom Brechen eines Damms
Teil 2 - Regen
Teil 3 - Hoffnung
Danksagung
Impressum neobooks
„Was bietet mehr Möglichkeiten als eine weiße Fläche“, murmelte Tommy. Seine Fingerspitzen strichen sanft über die leere Leinwand.
Ben brummte wenig überzeugt. Er dachte an seine kleine Wohnung im elften Stock eines heruntergekommenen Wohnturms. An den Wänden hingen keine Fotos, die Geschichten von ihm wichtigen Menschen erzählten; keine Bilder von Orten, an die er gerne reisen würde; keine Filmposter, keine Sporturkunden, ja nicht einmal Farbe wagte ihre Unberührtheit zu beflecken. Er lebte zwischen weißen Wänden. Doch wo Tommy die Chance auf einen Neubeginn sah, starrte er nur auf unerfüllte Verantwortung.
Es war seine Schuld, dass die Fläche für immer weiß bleiben würde.
„Müssen wir das hier wirklich tun?“, fragte Ben missmutig.
„Nein, natürlich nicht. Du musst gar nichts“, erwiderte Tommy. Er schaute Ben von seinem Platz vor der Staffelei aus an. „Aber ich möchte dich schon seit Langem malen, das weißt du. Es würde mir sehr viel bedeuten.“
„Und warum gerade hier?“
Bens Blick wanderte über das Menschenmeer in den Gängen des riesigen Kaufhauses. Es schwappte in Wellen in die vielen Geschäfte und teilte sich vor dem Brunnen, auf dessen Steinmauer er Modell saß. In der Mitte des Kreisbeckens hinter ihm erhob sich die aus dunkler Bronze gegossene Statue eines Mannes, der einen Jungen an der Hand hielt. Wann immer Ben die Skulptur sah, überkam ihn das Gefühl, dass hier etwas Schreckliches passiert war.
„Du weißt doch, weshalb es unbedingt hier sein muss“, antwortete Tommy. Statt zu erklären, was er damit meinte, mischte er auf seiner Farbpalette den Grundierungston an. „Kannst du deine Hand an den Hals legen? Ich will deinen Verlobungsring mit auf dem Bild haben.“
„Warum soll man denn den Ring sehen?“, entgegnete Ben argwöhnisch. Er verbarg die Finger seiner rechten Hand unter denen seiner linken.
„Ich versuche hier nicht bloß dein Äußeres abzubilden, Ben. Einen so großen Teil deiner Vergangenheit kann ich nicht weglassen.“
„Ich wünschte, du könntest es.“ Widerstrebend entblößte er seinen Ring, indem er sich die Fingerspitzen an den Hals legte. „Bitte beeil dich mit dem Gemälde. Es ist so unerträglich heiß.“
Seit Wochen schon brannte die Sonne unentwegt in Bens Nacken und auch heute flutete ihr Licht die Straßen der Stadt. Er versuchte stets, sich von ihr abzuwenden, entrinnen konnte er ihr jedoch nicht. Der Menschenstrom trug die Wärme von draußen ins Innere des Kaufhauses. Anders als die Menschen teilte sich die Hitze nicht vor den Beiden, sondern erfasste sie, verschluckte sie und juckte auf Bens schweißnasser Haut. Bei der Vorstellung, am nächsten Morgen arbeiten gehen zu müssen, überkam ihn das Verlangen, in der nächsten Buchhandlung einen Roman zu kaufen und sich in die Geschichte eines Mannes entführen zu lassen, der floh vor dem ewigen Sommer und sich stattdessen dem spülenden Regen der über ihm aufbrechenden Gewitterwolken ergab, selbst auf die Gefahr hin, dass ihn dieser womöglich hinwegreißend ertränken mochte.
„Man kann sich mit so etwas nicht beeilen“, antwortete Tommy. Er wischte sich mit dem Arm über die feuchte Stirn. „Ein Bild braucht Zeit oder es sollte gar nicht erst gemalt werden.“
In entschiedenen Strichen zog Tommy den Pinsel scheinbar zufällig durch das Weiß der Leinwand. Derweil knetete er mit Daumen und Zeigefinger der freien Hand sein linkes Ohrläppchen. Tommys Augen glichen normalerweise dunklen Seen. Ihr stilles Wasser verbarg jede Bewegung unter der Oberfläche. Doch wenn er malte, leuchteten sie in kindlicher Begeisterung auf und die freudvollen Grübchen in seinen Augenwinkeln vertieften sich.
Ben konnte das Bild von seinem Platz am Brunnen aus nicht sehen. Beunruhigt verfolgte er das Spiel der Muskeln an Tommys Unterarm. Er wusste von Tommys ungewöhnlichem Vorgehen beim Malen. Im Gegensatz zu anderen Künstlern, die in der Regel damit begannen, grobe Formen des Gesichts zu erfassen, würde Tommy nach wenigen Grundierungsstrichen zur Darstellung irgendeines Details übergehen. So würde Tommy vielleicht mit seinem breiten Mund beginnen, der wie zum Lachen gemacht schien, es aber aus ihm selbst unbekannten Gründen nur selten tat. Oder er würde eine seiner losen, blonden Locken so lebensecht abbilden, dass man im ersten Moment versucht war, mit dem Finger darüber zu streichen. Tommy hatte sich vorgenommen, seine Essenz, sein tiefstes Innerstes, in den Farben einzufangen und Ben befürchtete, sein Freund könne damit Erfolg haben.
Er schrie auf, als etwas in seine Wange schnitt.
„Was ist los?“, fragte Tommy erschrocken.
Ben berührte die Stelle mit den Fingerkuppen und betrachtete sie dann in der Erwartung, Blut daran vorzufinden. Schließlich zuckte er die Schultern, denn es war nichts zu sehen.
„Ach nichts.“
Tommy nickte und setzte den Pinsel wieder an die Leinwand. Besorgt spürte Ben das Kribbeln der Pinselborsten auf seinem Kinn, als sei seine Haut aus dem Leinen gemacht, auf dem Tommy malte. Der Druck wurde heftiger, die Borsten wurden mit jeder Sekunde härter und spitzer, bis er schließlich das Gefühl hatte, Tommy ritze ihm mit einem Messer seine intimste Schuld auf die Haut, wo sie jeder ungehindert betrachten konnte. Hunderte von anklagenden Gesichtern starrten ihn aus dem wogenden Menschenmeer heraus an. Sie rauschten vorüber und erkannten den Schmutz in seinen Farben. Jeder von Tommys Strichen biss schmerzhafter ins Leinen als der Vorherige. Feurige Striemen zeichneten seine Gesichtszüge nach. Sein Herz raste, die Qualen wurden unerträglich.
Ben fuhr hoch. Er verbarg sein Gesicht in den Händen.
„Hör bitte auf!“
„Was? Warum?“
„Es tut mir leid, Tommy. Ich halte das nicht aus. Es ist so heiß. Lass uns abbrechen.“
Tommy atmete geräuschvoll aus. Er rieb sich mit den Handballen erst über die Augen, dann über die Schläfen, wie er es immer tat, wenn ihm etwas Kopfschmerzen bereitete. Der panische Unterton in Bens Stimme war ihm bestimmt nicht entgangen.
„Na schön“, gab er nach. „Versprichst du mir, dass wir das Porträt irgendwann fertigmalen?“
„Ich verspreche es.“
Am nächsten Morgen kam Ben zu spät zur Arbeit. Die Anwaltskanzlei Schmidt & Grauer , in der er als Aushilfskraft angestellt war, lag gerade einmal fünf Minuten entfernt von seiner Wohnung. Doch als er am vorangegangenen Abend in sein Bett gefallen war, hatte er sich gefühlt, als müsse er die verpassten Nächte eines ganzen Jahrzehnts aufholen. Zugetan hatte er trotzdem kein Auge.
Er schlurfte zur Tür herein und entschuldigte sich bei Linda, die nur kurz nickte. Die fünfzehn Jahre ältere Frau war zweifache Mutter und arbeitete halbtags in der Kanzlei. Sie nahm gerade die Daten eines neuen Kunden auf und rasselte dabei mit ihrem Schmuck. An jedem Arm trug sie vier oder fünf verschiedene Metallarmbänder, jedes in einer anderen Farbe. Trotz des strengen Zuges um ihren Mund erwies sie sich, wenn man sie näher kennenlernte, als ein mitfühlender, liebevoller Mensch. Sie war das Einzige, was Ben an seiner Arbeit mochte.
„Ach, Ben“, rief sie ihm zu. „Ich habe etwas für dich.“
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