Sie reichte ihm einen zerknitterten Zettel.
Dienstag & Donnerstag 18:00-20:00, Sofia Donati,
Allenniastraße 12, Seminarraum 111
„Was ist das?“
„Das sind die Daten von einem Kurs für kreatives Schreiben“, erklärte sie. „Meine Tochter wollte ihn ursprünglich besuchen, hat jetzt aber keine Zeit dafür. Ich weiß doch, wie sehr du Geschichten liebst. Vielleicht möchtest du ja mal reinschauen.“
„Danke, Linda. Ich überlege es mir.“
Zu seiner Linken befand sich die Rezeption. Gleich dahinter lag das Archiv, das aus großen Metallschränken bestand und wo er nun damit begann, die bearbeiteten Akten wegzuräumen, die auf einem kleinen Tisch gesammelt wurden. Er nahm eine Akte mit der Aufschrift Harmann/Schmitz und ging zu dem entsprechenden Schrank. Nachdem er die Akte alphabetisch korrekt eingeordnet hatte, nahm er sich die nächste Akte vom Stapel. Wolff/Funke . Er ging damit zum Schrank und sortierte sie zwischen den restlichen Akten ein. Dann nahm er die nächste Akte vom Stapel. Bauer/Adolphs . Er nahm die Akte und räumte sie an ihren Platz. Fischer/Kirschmeier . Er nahm die Akte. Schwarz/Weiland .
Den restlichen Vormittag über erfüllte Ben seine üblichen Pflichten in der Kanzlei. Er beklebte Briefe mit Briefmarken, nahm Daten von Kunden auf, bat sie, im Wartezimmer Platz zu nehmen, antwortete auf Emailanfragen aller Art, plante Termine für die Anwälte, holte die bearbeiteten Akten aus ihren Büros, legte sie im Archiv auf den kleinen Schrank und sortierte sie ein.
In den letzten sechs Jahren seines Lebens war er immer mehr in diesen Trott verfallen. Jeder Tag glich dem vorherigen, Stunden über Stunden verbrachte er mit derselben geistlosen Tätigkeit. Ohne Anfang und Ende arbeitete er sein Leben ab. Wo waren die Neubeginne geblieben? In seine Fantasie hatte er sie verbannt, auf dass ein Anderer sie lebe. Hunderte von Geschichten hatte er sich ausgedacht, neidvoll träumend, sich danach sehnend, wie seine Figuren aus der windstillen Einöde heraus und hinein in das wilde Toben des Sturms zu treten. Doch er hatte es bei all seinen Versuchen nie geschafft, die eine Geschichte so zu schreiben, wie er es wollte, die er mehr als alle anderen am liebsten zu konstruieren in der Lage gewesen wäre: Sein Leben. Wer auch immer sein Leben erzählte, er selbst war es nicht, denn er lebte noch immer in der Realität und hier gab es keine Stürme. Nur endlose Hitze.
Als er gerade im Begriff war, eine der Akten zwischen die Übrigen zu schieben, hielt er inne. Mit einem Mal zerflossen die Metallschränke um ihn herum, die Wände der Kanzlei, die Stimmen der Kunden und Kollegen. Das fahle Licht der Neonröhren leuchtete grell auf und im nächsten Moment erstreckte sich über ihm ein strahlend blauer Himmel. Unter seinen nackten Füßen spürte er von der Sonne gewärmten Stein. Vor ihm breitete sich das Weltmeer aus, die gewaltigen, sich ewig bewegenden Fluten schlugen in Wellen an den Strand, erreichten seine Zehen jedoch nicht. Der erfrischende Wind, den die Wassermassen unentwegt aus weiter Ferne herantrugen, entknotete seine Haare. Seeluft füllte seine Lungen. Da entwand sich die Akte, die er immer noch in der Hand gehalten hatte, seinem Griff und flog in hohem Bogen dem Meer entgegen. In der Luft nahm sie das Tausendfache ihrer ursprünglichen Größe an und formte sich durch fortwährendes Falten zu einem Schiff. Gischt spritzte auf bei seiner Landung auf der wogenden Oberfläche. Hunderte solcher Schiffe schaukelten dem Horizont entgegen, wo sie immer kleiner wurden, bis sie schließlich ganz verschwanden. All die Geschichten, die hätten sein können, die auf ihre Segel geschrieben, auf Bug und Heck ins Holz geschnitzt standen, sie glitten davon und ließen den Archivar allein am Strand zurück. Seine Geschichte war eine andere. Sie handelte von weißen Flächen und unvollendeten Bildern.
Ben brachte nach kurzem Wühlen den Zettel aus seiner Hosentasche zum Vorschein. Er strich mit dem Daumen über das Papier. Ein Seminar, bei dem man lernte, wie man selbst die Geschichte schrieb? Vielleicht sollte er diese Sofia Donati wirklich mal kennenlernen. Ben erhob sich und verließ die Anwaltskanzlei Schmidt & Grauer für immer.
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