Tim Krohn
Die heilige Henni der Hinterhöfe
Roman
Kampa
Nachdem Henni Binneweis sich vier Wochen lang fast lüstern mit dem blutigen Attentat auf Herzogin Sophie und ihren Gatten befasst, Zeitungsausschnitte gesammelt, Fakten und Namen auswendig gelernt und an der Ungerechtigkeit der Welt gelitten hatte, war sie begeistert, als Kaiser Wilhelm den Serben den Krieg erklärte. Nichts konnte gerechter sein als das. Dass Männer Männer umbrachten, war ja normal. Dass dagegen ein Mann eine Frau erschoss, dazu noch eine Herzogin und Mama und eine, die brav im Auto gesessen hatte und keinem etwas antun wollte … Was mussten diese Serben für Barbaren sein! Jeden Abend lag Henni noch ein Weilchen wach und malte sich aus, wie sie sich zwischen das Automobil und den Schützen werfen würde, um mit der eigenen, schmalen Brust die Kugel abzufangen, und dabei fühlte sie eine innige Verzweiflung darüber, dass sie die arme, hilflose Sophie Maria Josephine Albina Gräfin Chotek von Chotkowa und Wognin, Fürstin und Herzogin von Hohenberg, an jenem 28. Juni in Sarajevo nicht vor diesem Gavrilo Princip hatte retten können, sondern zum Schulausflug auf dem Wannsee gewesen war. Der Name Henriette Binneweis wäre zweifellos in die Geschichtsbücher eingegangen, man hätte sie zum Ritter geschlagen oder heiliggesprochen. Es war zu ärgerlich, und manchmal weinte sie deswegen sogar ein paar richtig echte Tränen.
Damit sie flossen, half es, wenn sie daran dachte, was die drei verwaisten Herzogskinder wohl in dem Moment durchmachten, die zwölfjährige Sophie, der kleine Ernst und Max, der Mittlere, der wie Henni elf war. Sicher lagen sie jetzt auch schlaflos irgendwo in diesem fernen Böhmen und heulten Sturzbäche. Der Erzherzog hatte ja, ehe ihn die Kugel traf, seine schon getroffene Frau noch extra angefleht: »Sopherl, Sopherl, stirb net, bleib am Leben für unsere Kinder!« So hatte es in Frau und Welt gestanden. Und was hatte es geholfen? Da lagen sie nun ohne Mutter, ohne Vater, in einem finsteren, leeren Schloss in Böhmen, und ihre Zukunft war wüst und leer. Wo Böhmen lag, hatte Henni mehrmals nachgeschlagen und immer gleich wieder vergessen, aber sie stellte sich eine weite karge Landschaft vor, in der es tagein, tagaus dämmerte, und wer dort aufwuchs, war zart und bescheiden und hatte – sogar die Adeligen – ganz abgearbeitete Hände.
Bestimmt würden Sophie, Max und der kleine Ernst, schutzlos, wie sie waren, dort sehr bald auch ermordet.
Das malte sich Henni ganz besonders gern aus, wobei sie sie abwechselnd vergiften oder erdrosseln ließ. Leider blieben ihre Fantasien dabei etwas blass, weil sie so vieles nicht wissen konnte. Schliefen Adelskinder zum Beispiel auch auf piksenden Rosshaarmatratzen? Und schliefen sie in Wäsche oder nackig? Aus diesem Grund ging sie schließlich dazu über, sich selbst und Kuddl meucheln zu lassen, am liebsten von ganzen Horden böser Buben, deren Augen unter schwarzen Kapuzen hervorfunkelten und die sie mit haarigen, sehnigen Händen am Schopf die Treppe runterzerrten, wo sie gefesselt, bespuckt und auf Karren verladen wurden. Das brachte Hennis Blut so richtig in Wallung, und sie wand sich und stöhnte nach Herzenslust, bis Kuddl einen Schuh nach ihr warf, weil er nicht schlafen konnte.
Kurz vorm Einschlafen dachte sie dann wieder an die Kaiser. Erst an den bösen, an Kaiser Franz Josef von Österreich, der sich erfrecht hatte, Herzogin Sophie ein Staatsbegräbnis zu verweigern, bloß weil ihm ihr böhmischer Adel zu unfein gewesen war, dabei war sie für sein Österreich gestorben. Dann, als Krönung sozusagen, nochmals daran, wie nun ihr deutscher Kaiser den Serben die Lektion erteilte und nicht eine Sekunde danach gefragt hatte, ob die Sophie böhmisch, österreichisch oder deutsch gewesen war. Eine Frau gehört nicht so erschossen, Punktum. Ja, an ihrem Kaiser sollte Franz Josef sich mal ein Beispiel nehmen in Sachen Größe und Güte! Bisher war Henni so deutsch gewesen, wie man etwa brünett ist oder Senkfüße hat oder angewachsene Ohrläppchen. Aber seit Kaiser Wilhelm den Krieg erklärt hatte, war sie richtiggehend stolz darauf.
Und sie zweifelte auch nicht daran, dass jetzt ihr eigenes kleines, popeliges Leben eine Wende nahm. Denn das war ihr geweissagt worden. An ihrem vierten Geburtstag, dem 29. November 1906, hatte sie sich in den Kopf gesetzt, mit ihrem Papa, dem Postbeamten Arthur Binneweis, auf den Spielplatz zu gehen. Nicht den normalen am Wörtherplatz, sondern raus auf die Hasenheide, zum sogenannten »großen« Platz, zu dem ein Wunderkreis gehörte, ein Rundlauf, eine Schlängelbahn, Turngeräte und vor allem ein haushohes Klettergerüst aus Stangen und Seilen. Das nämlich wollte Henni besteigen, und da war es ihr piepegal, dass über Nacht an den Fenstern Eisblumen gewachsen waren und es nasse, schwere Flocken schneite.
Während also Mama Honigkuchen buk und Kuddl in der Schule saß, fuhr Arthur Binneweis, der extra freigenommen hatte, mit Henni in der Elektrischen nach Neukölln und ritt sie huckepack zur Hasenheide. Das Wasser rann ihm von der Hutkrempe und Henni unters Mäntelchen, und auf dem Spielplatz standen dicke Pfützen. Doch der Kletterturm war dort, wo er hingehörte, und anderes zählte nicht.
Die nassen Taue machten klamme Finger, und das Holz war glitschig, aber Henni zögerte nur kurz. Als Papa fragte: »Wollen wir die Kletterei nicht bis zum Frühjahr schieben und dafür im Josty heiße Schokolade trinken?«, kletterte sie schon vom ersten Balken und zog sich Sprosse um Sprosse hoch. Anfangs stützte er sie noch, dann stieg sie einfach weiter, immer weiter, und im Nu war sie oben.
»Ich bin oben!«, rief sie. »Siehst du mich?«
Arthur Binneweis applaudierte und rief: »Und nun steig mal wieder ab, bevor mein Hut sich auflöst, dann trinken wir zur Feier im Josty Schokolade.«
»Ich weiß aber nicht, wie runter.«
»Na, einfach runter«, rief Papa wenig hilfreich, »so, wie du hochgekommen bist.«
»Geht nicht, du musst mich holen.«
»Schritt für Schritt, es ist ganz einfach.« Arthur Binneweis sah seine Tochter im Schneegestöber nur noch wie schraffiert.
Sie tapste mit einem Fuß im Leeren, dann rief sie wieder: »Geht nicht, komm mich holen.«
»Also gut, ich hole dich!« Er hängte Hut und Mantel an ein Pauschenpferd und stieg aufs Gerüst. Aber kaum war er ein paar Meter hoch, rutschte er in seinen Halbschuhen ab, fiel halb, sprang halb vom Gerüst und stauchte sich den Knöchel.
Henni hörte ihn wohl schreien, sie fragte aber nur: »Holst du mich jetzt? Ich fühle meine Fingerchen gar nicht mehr.«
Arthur Binneweis versuchte sie nochmals zum Klettern zu bewegen. Er sah sie jetzt auch besser, weil es nicht mehr schneite, sondern regnete, und wollte ihr beschreiben, wo die Sprossen waren.
Doch Henni schrie nur immer: »Komm mich holen, komm mich holen!«
»Ich hole Hilfe«, erklärte er schließlich und humpelte zum nächsten Haus. Dort öffnete ihm ein Mädchen, das etwas älter war als Henni, vielleicht sieben.
»Den Kletterturm kenne ich gut«, sagte sie und versprach, Henni herunterzuhelfen.
»Das ist Elfriede«, rief Arthur Binneweis, als sie wieder auf dem Spielplatz waren, »sie hilft dir runter.«
Elfriede kletterte hoch und machte direkt unter Henni halt. »Ich nehme jetzt deinen Fuß und setze ihn auf die untere Sprosse. Dann stehst du drauf, und ich nehme den anderen Fuß.«
Henni klammerte sich aber nur am Gerüst fest, und als Elfriede ihren Fuß vom Seil ziehen wollte, trat sie zu.
Elfriede heulte gleich los. »Sie hat mich ins Gesicht getreten, der helfe ich bestimmt nicht runter.«
Vergeblich versprach Arthur Binneweis ihr einen Groschen. Elfriede blutete aus der Nase, daher bekam sie den Groschen dann auch so und einen zweiten dafür, dass sie Arthur Binneweis zur Feuerwehr brachte.
Читать дальше