Sie lasen keine Zeitung, und was im Kreise und in der Welt geschah, kam zu ihnen nur durch den Mund des Lehrers, der für sie der Moses in der Wüste war. Zwar hatten sie auch solche gesehen, die an der Öde ihrer Welt verzweifelt waren und als stille und wilde Trinker ihr Leben dahinbrachten. Oder solche, die in Haß und Verbitterung ihre Herzen zuschlossen, Menschenfeinde, die hart und kalt wie erbarmungslose Richter vor den verstörten Kindern standen und die man nicht mehr sah, wenn die Schulglocke um die Mittagszeit geläutet hatte. Aber die meisten unter ihnen waren doch von der Weisheit der Armut und der Einsamkeit erfüllt, freundlich eingeschlossen in ihre Welt, und das stille Licht, das sie durch ihre verlassenen Jahre trugen, leuchtete den Großen wie den Kleinen, ein zitterndes, kärgliches Licht, aber es fiel doch in manche trübe Stunde als ein tröstender Schein und gab Herz und Hand an ihre Not, während der Pfarrer aus dem fernen Kirchdorf schon aus einer düsteren, feindlichen Fremde kam, seine Worte über sie hinstreute und wieder verschwand.
Es gab solche unter ihnen, die ihre Bienen pflegten, und solche, die am Abend bei offenen Fenstern auf ihrer Geige spielten. Solche, die in den Hügeln nach alten Waffen gruben, und solche, die mit einer grünen Trommel über der Schulter in den Wäldern verschwanden, um nach Pflanzen zu suchen. Aber alle hatten sich in dem Gleichmaß der Tage einen kleinen Altar errichtet, vor dem sie beteten, einen Nachglanz jugendlicher Tage, in denen sie davon geträumt hatten, Führer und Propheten ihrer Dörfer zu werden, ein Brunnen der Liebe oder eine Fackel der Tat, und alle Armen und Gebeugten aus der Not ihres Lebens hinaufzuführen auf die reinen Höhen des Wissens, der Liebe, der Fröhlichkeit.
Sie hatten alle verzichtet. Ihre Träume waren verwelkt, ihre Kränze hingen immer noch unter den Sternen. Ihre großen Worte waren kleiner geworden, weil nur die kleinen Worte über die Schwelle fanden. Aber eines war ihnen langsam aufgegangen, wovon man ihnen auf dem Seminar nie etwas gesagt hatte: das Leben. Die Armut und die Bürde, die Größe und Heiligkeit des Lebens. Auch des kleinsten und niedrigsten, des verlassensten und verachtetsten. Und wenn sie den Sinn ihres eigenen Lebens bedachten, am Ende ihres Dienstes oder Daseins, so wollte es ihnen manchmal scheinen, als sei er unter allen Zweifeln und Rätseln doch zu finden, ein schlichter und bescheidener Sinn, aber doch kein Umsonst, kein Irrtum, keine Sinnlosigkeit.
Herr Stilling hatte es früher erkannt als viele seiner Vorgänger. Auch er hatte seine Träume und Kränze gehabt, aber das trockene Brot, bei dem er aufgewachsen war, armer Waldarbeiter Kind, hatte ihm dazu geholfen, daß sie nicht in einem fernen Nebel glänzten. Auch ihm war die Forderung tief ins Herz gefallen, als er sie zum erstenmal vernommen hatte, daß der Mensch edel, hilfreich und gut zu sein habe, aber ungleich vielen anderen machte er nicht den Text einer Predigt daraus, sondern meinte, daß man das Wort des großen Dichters auch erfülle, wenn man beim Kalben einer Kuh helfe, bei Krankheit und Trübsal, bei Trunksucht und Unfrieden, und daß auch in den ärmsten Dörfern langsam verstanden werde, ob jemand nach der Schrift tue oder nur nach ihr rede.
So war er, lange bevor sein Haar sich weiß gefärbt hatte, einer der Ihrigen geworden. Vor dem nichts verborgen zu werden brauchte, weil er doch alles sah, auch das im Dunkeln Geschehende. Der ihre wenigen Briefe schrieb und die vielen Kinder begrub. Und der alles umsonst tat, das Gute wie das Mühevolle. Der einzige unter ihnen, der ganz reinen Herzens war und an dem sie ahnten, daß es noch eine bessere Welt geben müsse als die ihrige, wenn sie ihnen auch für immer verschlossen bleiben würde.
Er hatte seine Frau begraben, und sein Sohn war übers Meer gegangen, fort von dem stillen Leben, das er für ihn bereitet hatte, verschollen an einer unbekannten, glühenden Küste, eine Mahnung für ihn, daß das Böse sich leichter vererbe als das Gute und daß auch im reinen Herzen die dunklen Kräfte lebendig seien, die Gott von Kains Geburt an ausgestreut hatte unter die Menschen. Eine Schwester führte ihm das Haus, die so fromm war, daß es schmerzte, die von dem Dorfe nur als von Sodom sprach und mitunter wie ein Racheengel von Haus zu Haus ging, wenn es einen verbotenen Fischzug gegeben hatte, ein Trinkgelage oder eine Prügelei. Sie war verwachsen, mit großen sanften Augen und hieß Elise, aber Gogun nannte sie »Frau Elias«, weil der Geist über sie kommen könne und sie dann umgehe, um die Baalspriester zu schlachten.
Während solcher Kreuzzüge ging Herr Stilling in die Wälder und Moore, einen kleinen Spaten in der Hand und die grüne Trommel auf dem Rücken, und schon hinter dem zweiten Hause begann er die Leute von Sowirog fröhlich und verstohlen zu warnen, daß die Heidenbekehrerin unterwegs sei, damit sie hinter den Gartenzäunen auf die Felder entfliehen könnten. In der Hauptstadt der Provinz lebte ein Professor mit einem berühmten Namen, zu dessen Füßen viele Studenten saßen, und für ihn grub und sammelte und erforschte er alles, was unter den hohen Fichten oder zwischen den Moorgräben wuchs, aus lange vergangenen Zeiten, als noch das Eis über dem Lande gelegen hatte oder der Steppenwind über die Öde gestrichen war.
Empfing er Brief und Dank von dort, so schien ihm sein bescheidenes Leben angeknüpft an das große Gewebe der Welt, ja es war ihm, als sei er ein Schüler jener Großen der Forschung und als trage auch er seinen demütigen Teil dazu bei, daß die Flamme der Wissenschaft nicht erlösche, sondern von Hand zu Hand gereicht werde, bis zu den fernen Grenzen hin, die Gottes Weisheit dem Menschensinn gesteckt habe.
Oft hatte er bei diesen Wanderungen einen seiner Schüler bei sich, von dem er glaubte, daß sein Geist sich erwecken und in Zukunft für ein Leben entzünden lassen werde, das aus dem Dunkel des Dorfes aufsteigen werde wie ein Stern. Was er von seinem kümmerlichen Gehalt ersparte, legte er auf einer Kasse der Kreisstadt an, Zins und Zinseszins, so heimlich, daß selbst Elise nichts davon wußte, und das Ganze nannte er die »Nobel-Stiftung«, dazu bestimmt und ausersehen, dem ersten der Dorfkinder den Weg in die Welt des Geistes zu öffnen, das nach dem Willen des Schicksals mit dem begabt worden war, das er an Gaben des Verstandes und Herzens dafür als nötig erachtete.
Doch waren jahrzehntelang nur Stifter und Stiftung da, während das Dorf durchaus eines Jungen ermangelte, der geeignet gewesen wäre, ihre Segnungen zu empfangen. Und erst ein paar Jahre waren vergangen, seit Stilling nach langer Beobachtung und Prüfung, und auch dann nicht leichten Herzens, einen seiner Schüler gefragt hatte, ob er ihm erlauben würde, für ihn zu sorgen und ihn auf die hohe Schule zu schicken, von wo er dann den Weg zu einem hohen Amte wählen könne, dem eines Seelsorgers oder eines Menschenarztes, oder was ihm sonst erstrebenswert erscheinen werde.
Sie hatten am Rand des Moores gesessen, Orchideen und Sonnentau vor sich ausgebreitet, in einer warmen herbstlichen Sonne, die das Harz noch einmal von den Fichten herunterrinnen ließ. Der Altweibersommer war durch die blaue Luft gesegelt, und an allen niedrigen Birken des Moores waren seine Schleier aufgehängt gewesen. Fern hatte das Dorf gelegen, fern die ganze Welt, und in der stillen Stunde war es gewesen, als säßen sie verzaubert am Rande der Erde und trügen den Wunschring am Finger, der nun einem von ihnen ein unbekanntes Reich aufschließen sollte.
Aber der, für den er gedacht war, gab den Ring still zurück. Er wollte nicht. Er wollte Dorf und See und Wald nicht verlassen, nicht die Armut und die Fron, den Kienspan am Herde und den Schweiß auf dem Acker. Er wußte, daß das andere schön sein würde, ein Wunder wie aus einem Märchenbuch, ein Glanz auf dem Namen seines Geschlechtes, und er glaubte auch, daß er den Weg bezwingen würde, der dort auf ihn wartete.
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