1 ...8 9 10 12 13 14 ...47 Ehrenreich Stilling ... vielleicht gewann er nach seinem Tode doch noch diesen Namen. Der Pfarrer würde ihn nicht so nennen, aber vielleicht würde hier und da, in einer der dunklen Winterstuben des Dorfes, sein Name zwar nicht so genannt, aber vielleicht so gedacht werden. Und wenn nicht sein Name, so doch einmal der dieses Kindes, das in so jungen Jahren die Schriftgelehrten aus dem Tempel trieb.
Zwei Wochen später erhielt der Lehrer ein Schreiben des Pfarrers, in dem er ersucht wurde, sich zu äußern, wie er den Vorfall mit dem Schüler namens Jeromin behandelt habe und welche Strafe er ausgesprochen habe.
Stilling berichtete, daß er versucht habe, den Kindern nicht nur das Ungehörige, sondern auch das Unrichtige jenes Vergleiches klarzumachen, wiewohl es nicht einfach sei, den Begriff des Gesetzes vor so jungen Seelen anschaulich zu machen. Ein Kind aber, das vom Bösen noch nichts wisse, für eine Äußerung seines kindlichen Glaubens zu strafen, sei nicht seines Amtes.
Darauf erfolgte lange nichts, und dann traf ein Schreiben seiner vorgesetzten Behörde ein. Man messe dieser Sache zwar kein besonderes Gewicht bei, hieß es darin, und man wolle ihm auch aus dem Vorfall keinen Vorwurf machen. Doch lasse sich nicht leugnen, daß das Ganze sehr unliebsames Aufsehen gemacht habe, zumal ihm bekannt sein werde, daß die unterirdische Wühlarbeit gegen Thron und Altar nun auch in die ländlichen Bezirke Eingang gefunden habe. Er möge es sich doch also sehr angelegen sein lassen, ein wachsames Auge auf seine Kinder und insbesondere auf diese Familie zu haben und der Verantwortung immer eingedenk zu bleiben, die er als ein Diener des Staates und der staatserhaltenden Kreise zu tragen habe. Womit man die Angelegenheit als erledigt betrachten wolle.
›Sie haben ein gutes Gedächtnis‹, dachte der Lehrer, ›aber bis er selbst ein Diener des Staates wird, werden zwanzig Jahre vergehen, und bis dahin werden sie wohl an andre Dinge zu denken haben als an den kleinen Schalksknecht.‹
Frau Marthe, als sie von dem allem hörte, sah ihren Jüngsten nur spöttisch an und meinte, wer so früh am Meiler zu arbeiten beginne, brauche sich nicht zu wundern, wenn er sich auch früh die Finger verbrenne.
Nur der Vater sagte nichts, bis sie wieder am Meiler lagen. Dort ließ er sich am Abend noch einmal das Gleichnis vorlesen, rührte mit einem Span in der Asche des Herdes und sagte dann: »Wer die Hand hebt, wenn die Pfarrer rufen, ist ein Tor. Wer die Hand hebt, wenn sein Gewissen ruft, ist ein getreuer Knecht.« Und er überließ es Jons, sich das Nötige dazu zu denken.
Jons aber entnahm aus allem nicht mehr, als daß er anscheinend den Kaiser beleidigt hatte. Und da er den ganzen Sommer eifrig damit beschäftigt war, Pfeilspitzen zu erfinden, mit denen man vom Boot aus die schweren Schleie schießen könnte, die an schwülen Nachmittagen regungslos über dem Kraut des Grundes standen, vergaß er das Ganze, und nur wenn sein Blick auf die gemalte Tasse unter dem Spiegel fiel, zog er die Augenbrauen zusammen und steckte die rechte Hand schnell in die Tasche.
Die Leute um den See herum nannten den Herrn von Balk den Habicht. Nicht nur wegen seines glatten graubraunen Haares, das sich dicht an den schmalen Kopf legte, seiner scharfen, etwas schiefen Nase und seiner hellgrauen Augen, sondern weil auch in seinen Worten und Bewegungen das jäh Zustoßende war, das sie an dem Raubvogel kannten. Und vielleicht auch, weil sie im allgemeinen gut daran taten, ihre weiblichen Küchlein vor ihm zu verbergen.
Sein Vater hatte noch gelebt, als sei das Mittelalter eben angebrochen, immer zu Pferde, immer mit der Reitpeitsche, ein harter Herr, der für Peter den Großen schwärmte und der in seinem Alter wunderlich geworden war, von zwei entlaufenen Mönchen umgeben, die seinen Weinkeller austranken, für ihn beteten und von ihm geprügelt wurden, wenn der alte Geist über ihn kam.
Sein Sohn war Offizier geworden und ein großer Reiter, bis er seinen Beruf aufgegeben hatte und ein paar Jahre lang durch die Welt gezogen war. Man erzählte von ihm, daß er Mohammedaner geworden sei, daß er eine Sammlung von Skalpen besitze und in China eine Opiumhöhle geleitet habe. Doch hatte niemand seinen Harem noch seine Skalpe, noch seine Opiumpfeife gesehen.
Einen Monat nach dem Tode seines Vaters, der in einem Sarg gestorben war, zu dessen Füßen die beiden Mönche zwischen zerbrochenen Weinflaschen eingeschlafen waren, kehrte er zurück, jagte die jammernden Vaganten vom Hof, hielt Gericht über getreue und ungetreue Knechte und begann, den riesigen, verwahrlosten Besitz in eine Musterwirtschaft umzuwandeln, in der es immer noch an Wunderlichkeiten nicht mangelte, aber von der man ebenso Märchenhaftes erzählte wie von seinem Harem und seiner Opiumhöhle. Er hatte eine eigene Turbinenanlage und ein Orchideenhaus, eine Sonnenuhr und ein Bad aus karrarischem Marmor, einen Affen, der die Scharwerkerfrauen mit Pferdeäpfeln bewarf, und einen Papagei, der zu dem Landrat bei dessen erstem und letztem Besuch »Sie Idiot!« sagte.
Er heiratete eine Gräfin, die ihm keine Kinder gebar, die ihn bald für einen Wahnsinnigen hielt und die mit der teuer bezahlten Hilfe von dunklen Propheten und Teufelsbeschwörern alle Arten von Exorzismus an ihm vorzunehmen begann. Worauf er sie mit ihren Koffern auf einen Mistwagen setzte und zur nächsten Bahnstation fahren ließ.
Man sagte, daß er viele Kinder in den Dörfern der Umgegend habe, und manchmal sah man ihn auf einer Dorfstraße von seinem Sattel aus lange auf ein schmutziges und fast nacktes Kind niederblicken, mit ernstem, ja traurigem Gesicht, und dann still weiterreiten, ohne einen Gruß zu erwidern oder auch nur jemanden zu sehen, der in seinem Wege stand.
Die Kätner und Waldarbeiter, die seinen Vater wie den Teufel gefürchtet hatten, trugen zu ihm fast eine stille Liebe in ihren dumpfen Herzen. Auch er konnte zuschlagen, schnell und scharf wie der Habicht, aber er vergaß es ebenso schnell, und niemals geschah es aus Willkür oder Laune. Und es war kein Zweifel, daß er ein »Herr« war, der einzige im Kreise, der es nicht kraft des Gesetzes oder Amtes war, sondern aus sich heraus. Und er war kein geiziger Herr. Sie fischten auf seinem See und trieben ihre Kuh in seine Wälder. Sie deckten ihre Dächer mit seinem Rohr und brannten den Torf aus seinen Brüchen. Und fast ganz Sowirog baute seinen dünnen Roggen und seine Kartoffeln auf dem Lande, das er ihnen zur Pacht überließ.
Und sie fühlten alle, daß er ein armer Herr war. Das Lächeln war selten auf seinem hageren Gesicht, und seine Augen waren wie Brunnen, aus denen man alle Freude geschöpft hatte. Er trank viel, aber nur die Unglücklichen trinken. Er hatte keine Gäste, keine Frau und keine Kinder. Er hatte viele Bücher, einen Affen und einen Papagei, der »Sie Idiot!« sagte.
Manchmal kam er zum Großvater Jeromin, der in seinen Diensten stand, und fuhr mit ihm zum Fischfang und zur Entenjagd. Dann sahen sie vom Dorfe aus am Abend auf der Insel vor Jeromins Rohrhütte ein Feuer brennen, und dann saßen sie dort bis zum Morgenlicht, den Rücken an die Hüttenwand gelehnt, und schwiegen oder sprachen.
»War es anders, Jeromin?« konnte dann Herr von Balk fragen. »Damals, vor siebzig oder achtzig Jahren?«
Und Michael schüttelte den Kopf. »Auch als der Prophet auf der Insel saß, die sie Patmos heißen, war es nicht anders, Herr. Unruhe war und Begehren, und Bathseba wusch sich auf dem Dach ihres Hauses. Krieg war, und Gott segnete die Waffen, einmal die der Amalekiter und ein andermal die der Franzosen oder der Moskowiter. Und nachher tanzten sie vor der Bundeslade, Frost und Hitze, Samen und Ernte, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Anderes war nie, und anderes wird niemals sein.«
Herr von Balk seufzte und legte die Füße näher ans Feuer. »In Hongkong kannte ich einen Chinesen«, sagte er, »einen Sohn des Himmels, einen reichen und mächtigen Mann. Er kam manchmal zu mir und wollte nichts als still dasitzen und zusehen, wie ich in meinen Büchern las. ›Erfülle mein Leben!‹ sagte er einmal zu mir. ›Vieles ist euch kund in den weißen Ländern. Erfülle mein Leben, wie man einen Pfeifenkopf mit Opium füllt.‹ Aber ich konnte es nicht, und er ging wieder fort. Später hat er sich die Kehle durchgeschnitten, um sein Leben zu erfüllen.«
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