1 ...6 7 8 10 11 12 ...47 Aber er wollte nicht. Er konnte es mit Worten nicht gut erklären, wie er seine ganze Jugend lang ein einsilbiges, ja düsteres Kind gewesen war. Er wußte nur, daß es nicht gut für ihn sein würde, nicht das Richtige. Daß dies alles hier ihn nicht losließe, obwohl er wenig Freude davon erwartete. Daß er dem Herrn Lehrer sehr dankbar sei, mehr als er sagen könne, aber daß er glaube, ihm sei ein schwerer und früher Tod bestimmt, und den wolle er lieber hier sterben als in einem fremden Land.
Es hatte merkwürdig geklungen aus einem so jungen Munde, und doch hatte der Lehrer geschwiegen, als er in das junge, zugeschlossene Gesicht gesehen hatte. »Es ist gut«, hatte er gesagt, »und wir wollen beide nicht darüber sprechen.«
Dieser Junge war Michael gewesen, und in der Nacht, als Stilling schlaflos gelegen und zugehört hatte, wie die Äpfel in seinem Garten auf das Gras fielen, war ihm gewesen, als sei dieses Haus der Jeromins vielleicht dazu bestimmt, den Namen des Dorfes noch einmal weit hinauszutragen in die Landschaft. Nur wußte er nicht, ob der Name leuchten oder brennen würde, und wenn er an die sieben Kinder dachte, die diesen Namen trugen, wußte er es noch weniger.
Doch hatte er von da an mit noch größerer Aufmerksamkeit in die Augen der Sieben geblickt, die er je nach ihren Taten oder Äußerungen die sieben Raben, die sieben Schwäne oder die sieben Geißlein zu nennen pflegte. Alle waren schöne Kinder, drei von einer dunklen und vier von einer hellen Schönheit, aber er wußte, daß Schönheit eine Gefahr war, ob sie nun über dunklem oder über hellem Scheitel lag. Es war deutlich zu sehen, daß in Michael, Gotthold und Gina das Blut der Mutter lebendig war, ein fremdes, trauriges Blut, das nach großen, wilden Dingen trachtete und mit dem Leben in Hader lag. So wie in den vier anderen das Blut der Jeromins lebte, ein stilles, träumerisches Blut, das in den Weg der Weisheit und Entsagung münden konnte, aber auch in den des zärtlichen Spiels, einer geheimnisvollen Frömmigkeit oder eines bloßen Dahintreibens und einer blinden Hörigkeit.
Oft stand er am Morgen unter der großen Linde des Schulhofes und sah den Kindern entgegen, die aus dem Dorf und den Abbauten langsam oder hastig dem Klang der kleinen Glocke zustrebten. Er kannte alle ihre Schicksale und die Schicksale ihrer Väter und Großväter, und es war ihm, als könne er mit einem leisen Griffel die Linien aller Geschlechter nachziehen, wie sie durch die Zeiten hin sich verschlangen und verwirrten, auflösten und auf den Weg mündeten, der ihnen vorgezeichnet war. Die Linien der Gonschors und Daidas, der Goguns und Glumsdas, der Grünheids und Pionteks. Wie gutes Blut sich mit schlechtem mischte, Wildes und Stumpfes, und wie einiges in seine Hand gegeben war, daß er bessere, kläre und leite, Weniges nur und vielleicht nur für kurze Jahre, aber das Ganze doch nicht ohne Hoffnung und Sinn.
Auch die Jerominkinder sah er ankommen, Michael allein, Gotthold allein und Gina manchmal noch vor dem Tor zögern, umkehren und hinter den Gärten im Moor verschwinden.
Aber die anderen kamen zusammen, eine kleine Karawane mit dem alten Kinderwagen, den Maria schob und in dem Christean mit seinem alten Gesicht saß, die Krücken aufrecht zwischen den Händen, die ernsten Augen zu den Wolken aufgehoben, die groß und feierlich über die Dächer zogen. Vor ihnen her ging Friedrich, immer mit wirrem Haar und meistens eine Weidenflöte an den Lippen, auf der er Lieder blies, die niemand kannte, ein Rattenfänger aus der Sage, dem die Mädchen nachsahen, ganz unbewußt seines Wesens, aber manchmal, inmitten seines Liedes, abwesend und in eine stille Traurigkeit versinkend, aus der er mit ernstem Gesicht erwachte, ein Träumender, der sich fast ängstlich nach den andern und dem Wagen umsah.
Aber nun, seit dem letzten Frühjahr, am Ende des Zuges Jons Ehrenreich, ernst und fast feierlich, ein kleiner Meßknabe, der zu dem Priester und dem Sakrament schritt. Auf ihm blieben des Lehrers Augen am längsten haften, noch während Friedrich behutsam und unter Scherzen den kleinen Krüppel aus dem Wagen hob und ihn in die Klasse trug. Er wollte nicht mehr hoffen, seit seine einzige Hoffnung zerstört worden war, aber manchmal, bei der Ankunft auf dem Hofe und während des Unterrichtes, wollte ihm bei aller Ängstlichkeit des Urteils doch scheinen, als sei diese breite, klare Kinderstirn über den tiefliegenden hellen Augen anders geformt als die andern Stirnen, ein schönes Gehäuse über einem reinen Kern, und seine Fragen, die er an Jons richtete, waren anders als die üblichen Fragen, manchmal voller Fallen und Listen, Fragen, bei denen er selbst den Atem anhielt und vor denen Jons doch immer bestand, zögernd meistens und nach langem Nachdenken, aber doch bestand, und nach denen er tief Atem holte, wenn die alte Hand sich auf sein Haar legte und die alte Stimme freundlich sagte: »Das war brav, Jons Ehrenreich, das war brav ...«
Und es kam dazu, noch in diesem ersten Frühjahr, daß Jons auf eine andere Weise auffiel als durch die Gewecktheit seines Geistes. Es gab damals noch in allen Dörfern der Provinz die geistliche Schulaufsicht, als einen Überrest der Zeit, in der die Theologie als die Meisterin und Krone aller Wissenschaften gegolten hatte. Nun war der Pfarrer des Kirchdorfes, zu dem Sowirog gehörte, ein nicht ungütiger, aber langsam bitter gewordener Mensch, der es müde war, das Evangelium über einen dornigen Acker zu sprechen, auf dem er nichts wachsen sah als Diebstahl, Trunkenheit, Prozeßsucht und Heimtücke. Sein Leben schien ihm vertan, und da er sich nicht für einen unzureichenden Diener des Herrn halten wollte, so blieb ihm nur übrig, seine Gemeinde für sündige Böcke zu halten, für ein Teufelsgeschlecht, in Wäldern und Mooren gezeugt, aufsässig und widerspenstig, eine Rotte Korah, die nicht der Liebe, sondern der Zuchtrute bedürfe.
Und kam er in die kleinen Dorfschulen seines Bezirkes, so sahen seine Augen in allen den Kinderaugen, die zu ihm aufgeschlagen waren, nicht Scheu und Ehrfurcht oder auch nur ein dumpfes Verwundern, sondern er sah hinter ihnen die Augen ihrer Väter und Mütter, ihrer Vor- und Nachfahren, Augen, die sich ein Leben lang scheu und widerstrebend zur Seite gewendet hatten, wenn er an ihr Gewissen geklopft hatte, und sein Blick, ohne Liebe, erkältete alle Bereitwilligkeit zur Antwort und zur Freude, so daß es nicht lange dauerte, bis er den Lehrer mit düsterem Kopfnicken in die gleiche Reihe der Schuldigen zu stellen schien, als einen ungetreuen Arbeiter im Weinberg des Herrn, von dessen sauren Früchten sie sich nun alle miteinander seufzend überzeugen könnten.
Manche empörten sich, und manche taten, als merkten sie es nicht. Herr Stilling aber hatte in solchen Stunden ein paarmal eines der Gleichnisse aus dem Neuen Testament besprochen, in denen von der großen Liebe erzählt wurde, die der Herr von seinen Gläubigen verlangte, und wenn er dann mit seiner alten, schon etwas zitternden Hand über sein weißes Haar strich, den Pfarrer wie gedankenverloren lange ansah und sagte: »Ja, so sollten wir alle tun, und die Großen noch mehr als die Unmündigen«, so pflegte der Pfarrer seine Prüfung bald zu beenden, in unbehaglichen Gedanken, ob diese Predigt etwa ihm gegolten habe, und in seinem Wagen mit dem mageren Trost sich helfend, daß dieser alte Mann ja nun bald sein Amt in jüngere und wohl ehrfurchtvollere Hände legen werde.
Diesmal aber hatte Stilling kein besonderes Gleichnis ausgesucht, sondern es war alles von selbst gekommen. Auf der Landstraße vor dem Dorf war der Pfarrer dem Gendarmen Korsanke begegnet, dessen Sohn er zu Ostern eingesegnet hatte. Korsanke war zu Pferde, den Helm auf dem runden Kopf, und sein gutmütiges Gesicht hatte dem Wagen unbehaglich entgegengesehen, denn er war nicht allein gewesen. An seinem linken Steigbügel, mit einem dünnen Lederriemen an das Eisen gebunden, war der Kätner und Waldarbeiter Daida geschritten, ein kleiner, gebeugter Mann, schon mit grauen Haaren, und hatte ohne Verlegenheit, ja mit einer fast spöttischen Neugierde dem Pfarrer entgegengeblickt.
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