Auch jetzt sah er nicht auf. »Es wird die Zeit kommen«, sagte er, »wo du in viele tote Augen sehen wirst. Warte so lange mit deinem Wunsch, Tochter.«
Sie nickte wie gehorsam und sah noch einmal in die Kammer der Kinder. Der Mond legte ein schmales silbernes Tuch auf die Dielenbretter, und aus dem Dunklen hörte sie den ruhigen Atem der Schlafenden. Es war wie in einer Kirche, wo im Schatten die Särge standen, und es graute ihr vor der Stille. Sie konnte keines der Gesichter erkennen, und sie lauschte nur, ob sie den Atem jedes einzelnen vernehme.
In ihrer Kammer saß sie noch auf dem Bettrand, nachdem sie ihre Füße gewaschen hatte, und flocht ihr Haar. Morgen würde sein, was alle Tage und Jahre gewesen war, und niemals würde etwas anderes sein. Noch ein paar Jahre, dann waren die Kinder fort, und einmal würde Michael sie auf das Altenteil schicken. Dort konnte sie dann spinnen und weben, das Totenhemd und vielleicht etwas für die Enkel. Und zusehen, wie Sommer und Winter kam und wieder von dannen ging. Wildgänse und Kraniche, und ab und zu eine Hochzeit oder ein Begräbnis. Und dann würde sie sich ausstrecken und schlafen können, ohne daß die Sonne auf ihren Augenlidern sie weckte.
Der Mond schien auf ihr Gesicht, als sie sich endlich niederlegte. Es war wie versteint von Gram. Ihre Gedanken gingen noch einmal in ihr Elternhaus, und sie versuchte, schon in der Mühe beginnenden Traumes, sich zu erinnern, mit welchen Puppen sie damals gespielt hatte. Aber sie hatte niemals mit Puppen gespielt.
Um die Mitternacht, als die Eulen in das Dorf kamen, hörte sie im halben Schlaf einen Wagen die Dorfstraße entlangfahren und eine heisere, traurige Stimme, die ganz allein in der weiten Nacht vor sich hinsang: »Zigánuschka, Zigánuschka, Zigánuschka moija ...«
Aber sie wußte nicht mehr, ob es Wirklichkeit war oder Traum.
Von dem Dorfe Sowirog hat noch keine Chronik erzählt. Die Chronik erzählt nicht von verlorenen Dörfern. Sie liegen an den Seen und Mooren jenes östlichen Landes, mit grauen Dächern und blinden Fenstern, mit alten Ziehbrunnen und ein paar wilden Birnbäumen auf den steinigen Ackerrainen. Der große Wald umschließt sie, und ein hoher Himmel mit schweren Wolken wölbt sich über ihnen. Eine sandige Straße zieht zwischen ihren verlassenen Gartenzäunen entlang. Sie kommt aus den weiten Wäldern und verschwindet wieder zwischen ihnen. Der Postbote geht auf ihr entlang und häufiger noch der Gendarm, und manchmal zieht ein Hochzeitszug bunt und lärmend durch ihre tiefen Geleise.
Aber meistens liegt sie schweigend da, und die jungen Birken werfen ihre dünnen Schatten auf die verschilften Gräben. Sie bewahrt nichts von dem, was einmal auf ihr zum Leben oder zum Tode gezogen ist. Sie hat keine Kreuze und keine Gedenksteine. Sie ist eine namenlose Straße.
Und so sind auch die Dörfer. Sie sind so klein, daß ihre Namen nur auf den Karten verzeichnet sind, die der Soldat im Manöver braucht, und auch dort nicht einmal mit Sicherheit. Sie tragen Namen von einem fremden, traurigen Klang, alte Namen sogar, aber schon hinter der Kreisgrenze kennt sie niemand. Sie sind wie Gräber aus den Zeiten lang vergessener Kriege, eingesunken, mit verwischter Schrift. Im Frühling, wenn die Kirschen- und Birnbäume blühen und der Flieder auf dem kleinen Kirchhof, können sie lieblich aussehen von ferne, vom andern Ufer des Sees etwa, aber der Frühling ist rasch und wild in dieser Landschaft. Er nimmt die Farbe, so rasch er sie gegeben hat, und dann sinkt wieder alles ins Graue zurück, unter einem riesigen Himmel, der mit gewaltigen Wolken über das Wesenlose sich spannt. Und wenn die Schneestürme von Osten über die Wälder kommen, decken sie alles zu, Straße und Graben, Giebel und Zaun. Wie gestorben sind dann die Dörfer unter einem ungeheuren Abendrot, und nur der schmale Pfad, der zu den Holzschlägen in die Wälder führt, zeigt an, daß Menschenfüße dort gegangen sind.
Von Sowirog stand in einer alten Urkunde zu lesen, daß es ein Beutnerdorf gewesen war, das heißt eine Gründung des Ritterordens zum Ernten wilden Honigs und wohl noch zur Wahrnehmung anderer Pflichten, von denen nichts geschrieben stand. Auch war der Name Jeromin schon in jenen dunklen Jahrhunderten aufgezeichnet. Doch war das alles, und niemand wußte, was seit jener Zeit an Krieg und Pest, an Unheil und Grauen über das Dorf gekommen war. Polen, Litauer oder Tatern, und wahrscheinlich alle nacheinander. Nur von Hungersnot war noch ein dunkles Gerede im Gange, als man aus Baumrinde Brot backte, und von der Pest, die niemanden verschont hatte als einen Hirten namens Michael. Der mit dem Rest der Herde auf die Waldhügel geflohen war und dann ein neues Geschlecht begründet hatte, reinen oder unreinen Blutes.
Auch lebten die Bewohner von Sowirog nicht in der Vergangenheit. Der Tag begann ihnen, sobald die Sterne verblaßten, und endete, wenn sie wieder über den Wäldern aufstiegen. Und er gab ihnen, mit Schweiß und Mühe, nicht mehr als das nackte Leben. Der steinige Acker trug ihre Kartoffeln und ihren Roggen, das Moor ihren Torf, der Seerand ihr Heu. Der Herr von Balk gab ihnen die Waldweide für die magere Kuh, der Forstfiskus Arbeit und ein wenig Holz, und was ihnen nicht gegeben wurde, nahmen sie sich, in dunklen Nächten, denn kein Pfarrer konnte ihnen glaubhaft machen, daß den Armen nur das Himmelreich gehöre.
Sie waren demütig und gebeugt, und in ihren Augen war noch abzulesen, wie die Jahrhunderte über sie hinweggegangen waren. Aber mitunter brach es doch aus den Fugen ihres Lebens heraus, ein dumpfer Zorn und ein wilder Haß gegen Welt und Gott, die ihr Spiel mit ihnen getrieben hatten, die sie enterbt und entäußert hatten, geschlagen und verflucht, und die doch ihren Zins einforderten. Geld und Söhne, Gebet und Hymne, Laster und Fron. Zuerst fluchten sie, und dann weinten sie, und am nächsten Morgen, beim Sternenlicht, nahmen sie wieder die Axt auf die Schulter und gingen in die Holzschläge, einer hinter dem andern, mit Lappen um die Füße, während der Frost die Bäume spaltete und das Eis auf den Seen schrie.
Manchen erschlug ein fallender Baum, und mancher erstarrte am Wegrand, wenn er betrunken von der Lohnzahlung heimkam. Mancher schlich nachts in die Wälder und kam spät zurück, einen Sack auf der Schulter und erbebend vor jedem Eulenschrei. Und alle sprachen von Wald und See als von »ihrem« Wald und »ihrem« See. Förster und Fischereiaufseher waren nicht ihre Freunde, und den Helm des Gendarmen erkannten sie schon am Horizont.
Niemals war jemand aus ihrer Mitte aufgestiegen und hatte Landschaft oder Provinz mit seinem Namen erfüllt. Das Los war ihnen dunkel gefallen, von Kindheit an, und im Dunklen schritten sie ihren Weg aus. Manchmal gewann einer einen weittönenden Namen als ein gefährlicher Wilddieb, als ein Fischräuber oder Holzstehler. Aber der Name verklang hinter vergitterten Fenstern, und sein Ruhm war mit seinem Tode dahin. Keiner von ihnen, außer dem Großvater Michael, hatte die »Welt bewegt«, wie Jakob sagte. Kein Landrat, kein Pfarrer, kein Lehrer war aus ihrer Mitte aufgestiegen, kein Denker neuer Dinge, kein Prophet einer neuen Liebe. Und aller Überfluß an jungen Söhnen, die kein Erbe zu empfangen hatten, verschwand in den westlichen Städten des Reiches, versank in den Bergwerken unter der Erde, vergaß die Wälder und Moore und bezahlte Lohn und Gewinn mit der Friedlosigkeit der im Dunklen Lebenden, mit der Zugehörigkeit zur Masse der Hadernden, die ihnen doch fremd blieb bis zur Todesstunde.
Kamen sie nach vielen Jahren einmal in die Heimat zurück, als ein kurzer Besuch für das staunende Dorf, in städtische Kleider gepreßt, mit Frauen, die dumm und hochmütig auf die Armut blickten, so standen sie heimatlos am Ufer des Sees, wie lebenslang Eingekerkerte, die das Licht vergessen hatten. Sie rühmten ihren Verdienst und ihr Leben, sie prahlten von dem, was sie dort vorstellten, aber ihre Worte klangen hohl und falsch, und mancher schlich sich in der Dämmerung zu dem wilden Birnbaum am Ackerrain, wo seine Kindheit begraben lag, und blickte in Schwermut und dumpfer Trauer auf das karge Land, das auch ihm verheißen worden war und das er hingegeben hatte um ein Linsengericht.
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