Als die Leiche freigegeben wurde, holte Jakob sie aus der Kreisstadt ab. Gogun fuhr den Wagen mit den beiden kleinen Pferden, ohne Lieder, mit schwermütigem Gesicht. Neben ihm saß Jakob, sehr gerade, mit bloßem Haupt, die Papiere noch immer in den Händen, die man ihm gegeben hatte.
Hinten, am Fußende des Sarges, saß Jons im Stroh, die Holzkiste neben sich, so wie er eben zu den Ferien aus der Stadt gekommen war. Wenn der Wagen in den ausgefahrenen Geleisen stieß, dröhnte es leise, als sei der Sarg leer und das Ganze nur ein böser Traum. »Strebe nicht nach dem Paradies, Mönchlein!« hatte Jumbo gesagt. Nein, er war nun weit davon entfernt, nach dem Paradies zu streben.
Zum erstenmal in seinem Leben meinte Jons, daß er heimatlos sei. Der Tote nahm die Heimat ein, und es war kein Platz für die Lebenden. Die Mutter stand am Herd wie ein Stein und sah ihn an, ohne ihm zuzunicken. Der Großvater war auf der Insel, der Vater ging zum Meiler, sobald sie den Toten aufgebahrt hatten. Nur Christean saß oben in der Kammer und sprach zu ihm, aber er sprach ohne Trost. Nein, sie wußten nichts. Friedrich habe immer allein gelebt, und auch sein Lachen sei allein gewesen. Doch von der Nacht mit der Flöte erzählte er lange. Damals habe der Bruder Abschied genommen, und sie hätten es alle wissen sollen.
Jons ging über die Felder, bis er Michael beim Pflügen fand. Jons ging neben dem Pfluge her, über die Stoppel, die voller Spinnennetze hing. Sie sprachen nicht, aber Jons legte die Hand auf Michaels Hand, die die Pflugschar hielt, und Michael ließ sie dort liegen.
Erst als er den Pflug wendete, hielt er einen Augenblick an und sah über den Acker. »Kein Segen ruht auf uns, kleiner Jons«, sagte er. »Mach ein Feuer auf dem Herd, wenn wir fort sind, und sprenge die Stuben mit reinem Wasser aus, hörst du?« Dann schob er die Hand des Bruders sanft von der seinigen und setzte die Spitze des Pfluges wieder in das Feld.
Es war ein langer Tag für Jons. Eine Weile saß er auf dem Kirchenhügel und blickte über den See nach dem Paradies, das wie ein goldener Acker zwischen den grauen und grünen Wäldern lag. Er hatte noch nicht gewußt, wie es war, wenn der Tod zuschlug, so dicht, daß man die Luft sausen hörte. Niemals hatte der Tote Böses getan, aber er war anders gewesen als die andern. Nur anders, nichts weiter, und es hatte ausgereicht, daß Gott zugeschlagen hatte.
Er war ganz allein auf dem Hügel, und hinter ihm stieg das hohe Dach der Kirche in die blaue Luft. Nein, er glaubte nicht, daß er hier auf der Kanzel stehen würde. Wenn er nun schon den Talar trüge, was würde er an diesem Sarge sagen und welches Gebet würde er sprechen können? Er fühlte, daß nicht Demut ihn erfüllte, sondern eine bittere Verstörtheit, und auf ihrem Grunde lag ein kalter Zorn, der mit Gott zu rechten begann. Wenn er sie strafen wollte, die Kinder des Hauses, gut, so mochte er es tun, obwohl er nicht wußte, wofür. Aber es war nichts Edles dabei, den Vater zu strafen. Er sah ihn auf dem Wagen sitzen, mit seinem hellen Haar, das wieder grauer geworden war, und über die Pferdeköpfe hinweg auf den Weg blicken. So müde waren seine Schultern gewesen, so müde seine Augen, als er ihn am Bahnhof erwartet hatte. Es war nichts Edles dabei, einen Müden zu schlagen, der so verlassen war wie der Vater.
Wenn ihnen aufgetragen wurde, Gerechtigkeit auf den Acker zu bringen, so mußte Gott ihnen vorangehen, aber er sah keine Gerechtigkeit in diesem Tode. Es war nichts Großes dabei für einen allmächtigen Gott, unter dem hellen Mond einen Menschen zu überfallen und ihn in das Moos zu werfen, und auch Jumbo würde nichts Großes darin sehen. ›Eine falsche Rechnung, Mönchlein‹, würde er sagen wie am letzten Abend und sein dickes Buch schließen. ›Sie geht nicht auf, schon seit hunderttausend Jahren nicht, und es ist nicht einzusehen, wie sie überhaupt aufgehen soll.‹
Er blieb sitzen, bis er Maria mit einem Bündel die Straße vom Kirchdorf herankommen sah. Er rief ihr zu, und sie saß bei ihm, heiß und bestaubt von ihrem Wege, und jetzt erst, als er ihr erzählte, was er wußte, kamen ihm die ersten Tränen.
Ihre Stimme war noch immer so tief und ruhig wie früher, und als sie ihren Arm um seine Schulter legte, war er zum erstenmal geborgen.
»Ließen sie dich nicht früher fort?« fragte er dann. Sie war immer noch bei den Küstersleuten im Dienst.
»Wenn von den Armen einer stirbt, Jons, machen sie nicht viel Aufhebens davon. Sie denken wohl, wir merken nicht viel vom Tode. Erst müssen die Pflaumen eingekocht werden, hat die Frau gesagt, und das Begräbnis sei doch erst morgen. Es sei nicht gut, einen Toten so lange anzusehen. Und da bin ich dann geblieben.«
Jons sah, daß ihr Gesicht schmaler geworden war, und plötzlich überfiel ihn eine brennende Scham, daß er dort in der Stadt saß, in der kleinen Kammer über seinen Büchern, während sie hier den Rücken beugten und arbeiteten. Er wolle nicht mehr zurückgehen, sagte er, aber sie lächelte schon wieder, zog seine Wange an ihre Schulter und redete ihm zu. »Kleiner Jons«, sagte sie, »Arbeit ist Arbeit, und weißt du nicht, daß wir stolz auf dich sind? Der Vater und Christean und Michael und ich? Und vielleicht ... auch die Mutter?«
Die Mutter? Ach nein. Seine Mutter war diese Schwester, die so sanft war, daß schon ihr Atem die Tränen trocknete. Und wenn er einmal groß wäre, würde sie immer um ihn sein und am Herde stehen und Geschichten erzählen. Und alles, was mit dem Vater einmal dahingehen würde, das würde weiterleben in ihr, das Beste, was sie alle zusammen an Erbe besäßen.
Ob von Gina und Gotthold Nachricht da wäre, fragte sie leise.
Ja, von Gina sei ein Kranz gekommen und von Gotthold ein Telegramm. Sie nickte vor sich hin und zog langsam ihre Schuhe und Strümpfe an. Es sei nun wohl Zeit zu gehen, meinte sie.
In der Nacht schlich Jons sich leise die Treppe von der Kammer hinunter und schlüpfte in die große Stube, wo der Sarg stand. Zwei Kerzen brannten zu seinen Häupten, und am Fußende saß der Vater, ganz allein in dem großen Gemach. »Komm, Jons«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Ich weiß, daß du es bist.«
Jons trat an seinen Stuhl, und Jakob legte den Arm um ihn. »Du mußt nicht fragen, Jons«, sagte er. »Ich weiß nichts, gar nichts weiß ich. Wir müssen ihn nur ordentlich ansehen, weil er für lange Zeit fortgehen wird. Und dann müssen wir still sein und horchen, ob Gott sprechen wird. Noch hat er nicht gesprochen, aber er hat mehr Zeit als wir.«
»Und wenn er gar nicht spricht, Vater?«
»Auch dann muß es gut sein, Jons. Die Armen haben nicht zu fragen: ›Warum?‹«
Jons wußte nicht, was der Vater dachte, aber er stand ganz still in seinem Arm und blickte in das tote Gesicht. Frieden ging von dem Toten wie von dem Lebenden aus, und das schien Jons wunderbar, daß der Vater vor dem Toten bestand. Daß er nicht geringer war wie alle die andern, wie er selbst, und daß man vor seinem stillen Gesicht so schweigen mußte wie vor dem des toten Bruders.
Dann führte der Vater ihn zur Tür und ließ ihn hinaus.
Den Großvater sah er erst bei der Beerdigung. Sein Gesicht war noch immer dasselbe, seine Gestalt die geradeste von allen. Er stand hinter dem Sarg und sah über die Menschen hinweg, die den Raum erfüllten, auf seinen Stock gestützt. Keine Trauer war in seinen Augen, nur das helle, weißblaue Licht, das Jons immer in ihnen gesehen hatte.
Als der Pfarrer eintrat, sah Jons, daß alle Gesichter sich veränderten, als ob zwei große, unsichtbare Schwingen sie gestreift und die Angst auf ihnen zurückgelassen hätten. Er wußte wohl, daß sie fürchteten, er könnte getrunken haben. Aber Agricola hatte nicht getrunken. Sein Gesicht war grau und von Schmerzen gezeichnet, und er sah nicht aus, als trüge er einen Becher mit Trost in seinen Händen.
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