So ging Jons in sein erstes Konzert. Es wäre nicht das erste gewesen, wenn er daran gedacht hätte, von Herrn Stillings Geld einen Pfennig an solche Dinge zu wenden, aber er hatte eben nie daran gedacht. Das Gleichnis vom Schalksknecht war noch immer sehr frisch in seiner Erinnerung, und wer von fremdem Gelde sich ein Vergnügen machte, war in seinen Augen nicht anders als ein ungetreuer Knecht.
Er kam so früh, daß er auf den Fußspitzen zu seinem ganz vorn gelegenen Platz gehen mußte, weil in dem noch leeren großen Raum seine genagelten Absätze von den Wänden widerklangen. Die wenigen Menschen, die schon da waren, sprachen leise, und es war ihm so feierlich zumute wie bei dem Begräbnis des toten Bruders. Das Podium war leer, und nur der schwarze Flügel, geöffnet wie die Schwingen eines ungeheuren Vogels, stand schweigend und tödlich ernst über dem Saal. Seine Augen kehrten immer wieder zu ihm zurück, und es war ihm unbegreiflich, wie ein Kind davor bestehen sollte, wenn man es vor die verwirrende Reihe der weißen und schwarzen Tasten setzte. Es würde wie ein Kind vor einem Berge sein, und der Berg würde es erdrücken oder erschlagen.
Er hatte kein Programm gekauft, sondern die Folge der Werke draußen an der Tür auswendig gelernt, den Namen des Kindes, seine kurze Lebensgeschichte, die Städte, in denen es gespielt hatte; und wie der Saal sich nun füllte und er klein und namenlos unter so vielen großen, prächtig gekleideten Menschen saß, nur die kleine Konzertkarte in den Händen, die noch vor nicht langer Zeit schwarz vom Ruß des Meilers gewesen waren, kam ihm das Ganze wie ein Traum vor, und als ein leises Glockenzeichen ertönte, eine kleine Tür an der Seitenwand des Podiums sich öffnete und ein Knabe im blauen Matrosenanzug in ihr stehenblieb, die schüchternen Augen in das Licht und in die vielen, vielen Gesichter gewendet, indem ein Sturm des Beifalls durch den Saal brauste, stand er so ehrfürchtig auf wie in der Schule, wenn der Direktor das Klassenzimmer betrat, und erst als die alte Dame neben ihm lächelnd und behutsam am Ärmel seiner Jacke zog, setzte er sich errötend und saß nun ohne Bewegung, die Hände gefaltet und nun ganz gewiß, daß ein Wunder sich vor ihm auftun würde.
Der Knabe im Matrosenanzug hatte sich in der Tür verbeugt, den Griff noch in der Hand, als sei er unsicher, ob er es wagen solle, vor das Gesicht der wartenden Menge zu treten, war dann bis zum Stuhl vor den Flügel gegangen, hatte sich noch einmal verbeugt, artig, aber so, als seien seine Gedanken schon bei der drohenden Schwärze des ungeheuren Flügels, und saß nun vor dem schmalen Band der Tasten, die kalt und wie gemeißelt vor ihm lagen.
Jons atmete kaum. Er war schon vor dem ersten Ton verzaubert. Er hatte den Flügel und das Konzert vergessen, und seine Augen hingen gebannt an dem kindlichen Gesicht, aus dem das blonde lockige Haar zurückgestrichen war und das ihm wie das Gesicht eines Engels erschien, eines ernsten, schon von Gott geprüften Wesens, das er mit einem Auftrag zur Erde gesandt hatte, um den Menschen eine Botschaft zu bringen, aber niemand wußte noch, ob Freude oder Trauer in dieser Botschaft beschlossen lagen.
Der erste Akkord hallte hart und drohend über den schweigenden Saal. Alles Kindliche war nun ausgelöscht aus dem Gesicht des Spielenden, abgefallen wie eine Maske, und über der erhobenen Stirn lag nun ein fast tödlicher Ernst. Das Gesicht hatte sich so plötzlich verwandelt, daß Jons zuerst gar nicht das Spiel hörte, sondern nur auf diese erhobene Stirn starrte. Er begriff sofort, daß es nicht recht war, dies ein Spiel zu nennen, und wie eine Erscheinung sah er hinter dem Flügel das Band der Jahre vorüberziehen, das diesem Spiel vorausgegangen war. Jahre schweigender, hingegebener und oft verzweifelter Arbeit. Eine tödliche Besessenheit, die den widerstrebenden Körper unterwarf, um frei, wie auf allmächtigen Schwingen, über dem Feld der Töne zu schweben. Niemand wußte, was diese Augen sahen, die zur Decke des Saales aufgeschlagen waren, indes die Hände nur wie gehorsame Diener über die Tasten glitten. Aber die Musik war nicht in den Händen und den Tasten. Die Musik war hinter der klaren, jungen Stirn, auf dem Grunde der abwesenden Augen, in den Kammern des Herzens, durch die das Blut unsichtbar strömte. Es war die eigentliche Musik, die wahre und verborgene, die Gnade, die geschenkt oder errungen worden war, und die in zwei Spiegeln vor den Lauschenden erschien, dem der Töne und dem des jungen Antlitzes, über das sie in Licht und Schatten glitt.
Es war Jons vom ersten Akkord an ohne Zweifel, daß es so war, und während des ganzen Konzerts sah er die Hände des Knaben nur wie helle Schemen über die Tasten gehen. Die Klänge durchwehten ihn wie die der Orgel, aber sie drangen nicht in sein Bewußtsein. Was ihn erbeben ließ und bis in seine letzten Fasern erfüllte, war das Gesicht, das über den Tönen stand und an dem seine Augen wie an einer Erscheinung hingen. Er bedurfte der Töne nicht. Noch bevor die erste selig schwebende Melodie sein Ohr erreichte, hatte er sie von dem Lächeln des jungen Mundes abgelesen. Noch bevor die dunkle Klage unter der linken Hand in sein Bewußtsein trat, faltete er die Hände fester zusammen, weil er von den Schatten, die um Stirn und Augen sich plötzlich breiteten, ablas, daß der dunkle Engel vor die Seele des Spielenden trat. Er war wie ein Geisterseher, und niemals hatte er das Bild des Lebens und des Todes, der Engel und der Dämonen mit einer so schaurigen Gewalt sich vor seinen Augen abzeichnen sehen.
Dies gab es also, daß ein Kind die Welt bewegte, indem es sich von ihr bewegen ließ. Nicht Tat oder Wort war ihm gegeben, sondern nur der heilige Gehorsam, der den großen Meistern folgte und der ihre Schmerzen und Freuden so in sich aufgenommen hatte, daß es wie durchtränkt von ihnen schien. Nicht das schien Jons das Große, daß es ihre Noten spielte, sondern daß es die Fülle ihres Lebens und Leidens in sich hineingetrunken hatte, aus der die Noten geboren worden waren. Daß es wie ein kindlicher Sebastian alle Pfeile ihres Erdenganges ergriffen und an seine junge Brust gedrückt hatte, damit es nun aus ihr wieder herausströme und die Menschen durchschauere. Die Natur hatte ihn mit Händen beschenkt, an die er seine Arbeit gewendet hatte, aber sie waren nur Werkzeuge. Er spielte aus seinem Herzen heraus, und dort, nur ihm sichtbar, weilte die Gestalt, das Letzte, das immer Unerreichbare, um das die Meister schon gerungen hatten, ja, das schon vor dem Berge Nebo gelegen hatte, damals so fern, wie es heute fern war, aber von dem man einen Hauch aus den Tasten aufblühen lassen konnte, ein Lächeln, das so beseligend war, weil es zurückreichte bis in die grauesten Zeiten und in seinem Glanz alle Abgründe des Schmerzes sanft spiegelte, die es überflogen hatte bis in diese Stunde und in diesen Saal hinein.
Er wußte nicht, wie lange es gedauert hatte, ob eine Stunde oder die ganze Nacht. Es gab keine Pausen für ihn, denn auch während der Pausen sah er das Kind dort sitzen und hörte seine Musik. Es war so eingegangen in ihn, daß er es nie verlieren würde. Für ihn war es kein Konzert, das vorüberging, und morgen kam ein anderer Tag mit neuen Bildern und neuen Klängen. Für ihn war es etwas, das nur einmal war, so wie die Einsegnung nur einmal war, und als der letzte Ton verklungen war, ganz in der Tiefe und lange nachhallend aus der Gruft des schwarzen Instruments, als das Kind ihm nachzulauschen schien wie dem Abschiedswort des dunklen Engels, der nun wieder zurückkehrte in seine große Heimat: da war ihm, als habe es ihn wirklich eingesegnet und ihn aufgenommen in einen unverlierbaren Bund, den Bund derer, die durch Töne, Farben und Worte hindurch nach jener letzten Gestalt trachteten, die hinter der Wirrnis der Welt in makellosem Glanze unerkennbar und unerreichbar verharrte.
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