»Schreibe nun, Korsanke!« sagte sie dann, und ihre Stimme war so feierlich, daß er ohne ein Wort gehorchte.
Es sei nun so, sagte die Frau, daß sie bei Friedrichs Tode nicht alles gesagt habe, was sie wisse, und sie sei auch nicht gefragt worden danach. Keiner habe nach der Flöte gefragt. Die Flöte aber habe ein ganzes Stück fort von dem Toten gelegen, so weit, wie man im Zorn ein Stück Holz fortwerfe. Sie habe sie selbst lange nicht gesehen, und erst als die Sonne hoch gestanden sei, habe sie im welken Laub, weit hinter dem Toten, etwas blitzen sehen. Sie habe gedacht, es sei ein Stück Glas, aber es sei die Klappe der Flöte gewesen. Das schwarze Holz sei in der Mitte durchgebrochen gewesen, so wie man ein Stück Holz über dem Knie entzweibreche, und fortgeworfen, so wie man einen bösen Zauber fortwerfe, der einem endlich unter die Hände gekommen sei.
Sie habe die Stücke aufheben wollen, aber dann sei ihr etwas eingefallen. Sie habe gewußt – und davon werde sie nachher sprechen –, daß es Fingerabdrücke gebe, die die Spur der Tat bewahrten. Es sei sicher, daß der Mörder die Flöte zerbrochen habe. Sie sei aus schwarzem Holz und es sei kein Tau gefallen in jener Nacht, weil es am Abend zu regnen begonnen habe. Und wer ein solches Instrument zerbreche, müsse seine Hände sehr fest darum schließen.
Sie habe die Stücke also mit einem Tuch aufgenommen, sie eingewickelt und so nach Hause getragen, daß sie sich nicht bewegt hätten. Er solle die Kommode dort aufschließen und in der untersten Schublade die Kopftücher aufheben, aber nichts bewegen und berühren, bis er die Stücke dem Gericht abgegeben habe.
Korsanke saß eine Weile still da, den Federhalter in der Hand, und blickte auf den Bogen mit seinen Schriftzügen nieder. »Und weshalb, Mutter«, fragte er schließlich und sah sie an, »hast du nichts gesagt bis jetzt?«
Sie starrte eine Weile in die Dämmerung des Zimmers, durch die der rote Schein des Feuers unruhig ging. Ihr Gesicht war nun schon gezeichnet, aber die Augen waren noch immer von der furchtlosen Schärfe, die sie im Leben besessen hatten. »Auch das will ich dir sagen, Korsanke«, erwiderte sie, »wenn keiner als das Gericht es von dir erfährt.«
Er versprach es.
»Wenn ich es gesagt hätte«, fuhr sie fort, »so wäre ich vor Gericht gekommen, und ich hätte angeben müssen, wer ich bin. Ich hätte auch sagen müssen, daß der Scharfrichter mit dem Beil über meinen Mann gekommen ist, weil er seine Eltern umgebracht hat, auf dem Altenteil. Und ich hätte es vor vielen Ohren sagen müssen. Das wollte ich nicht, um meiner Tochter willen. Hast du es gewußt, Korsanke?«
Nein, er hatte es nicht gewußt. Er hatte die Feder hingelegt und sah auf die zugefrorenen Fensterscheiben. Es fröstelte ihn, und er dachte, daß auch er vielleicht die Krankheit bekommen werde. Dunkel war das Leben, und die Frauen hatten es am schwersten.
»Nein, keiner hat es gewußt«, sagte sie, »nur Michael. Und Michael ist wie ein Grab. Erdmuthe trägt ein Kind von ihm, aber er wird sich nicht lange an ihm freuen. Nicht lange. Schreibe es nun auf, Korsanke, daß ich meinen Namen daruntersetzen kann.«
Er stand schwerfällig auf, ging zur Kommode und legte das weiße Tuch vorsichtig unter die Lampe. Dann schrieb er, und sie setzte ihren Namen darunter.
»Du wirst nicht weit zu suchen haben, Korsanke«, sagte sie, »soviel ich davon weiß. Der Älteste von den Czwallinnasöhnen ist hier immer ums Haus, aber es ist ihm nicht um die Tochter zu tun. Ich habe gesehen, wie er gesucht hat, nach der Flöte. Viele Tage und Nächte, wenn der Mond geschienen hat. Er hat Angst, und er hat sich gedacht, daß ich sie gefunden habe ... nun reite wieder, Korsanke, und sage der Tochter, daß sie kommen kann.«
Die Frau in der »Armen Sünde« starb am übernächsten Abend. Sie wollte keinen Arzt und keinen Pfarrer haben. »Sie haben mich gebrochen, wie man Flachs bricht«, sagte sie zu Erdmuthe, »und das ist es ja wohl, was der liebe Gott sich vorgenommen hat mit uns. Ich bin klein genug für ihn, auch ohne den Pfarrer.«
Etwas Geld war da, und in der Not sollte sie zu Jakob gehen, wenn Michael noch nicht von den Soldaten zurück sei. Er habe es ihr versprochen.
Sie starb ganz still, ohne Todeskampf. Der Frost spaltete die Bäume hinter der Hütte, und die zugefrorenen Fensterscheiben waren hell vom Lichte des vollen Mondes.
Während sie begraben wurde, holte man den älteren der Czwallinnasöhne, und damit schien der Tod die Wälder zu verlassen. Aber hinter seinen Fußtritten wurden sie noch einmal gebeugt und verstört.
Wie in alter Zeit hatte Stilling die Tote einsegnen müssen, denn der Pfarrer war nicht gekommen. Er hatte sagen lassen, daß er kein Pfarrer mehr sei. Er hatte sein Amt niedergelegt und verkaufte, was ihm an Sachen und Büchern noch geblieben war. Das Mädchen war aus seinem Hause geflohen, weil er die ganzen Nächte trank und Gott verfluchte. »Komm her, du Kindermörder«, schrie er, »und zeige deine blutigen Hände! Zeige sie her, ganz nahe, damit ich sie dir abtrocknen kann. Es war dir nicht genug an der Erstgeburt in Ägypten und an den Kindern von Bethlehem, nicht wahr? Und auch an deinem eigenen Sohn war es dir nicht genug. Du hast ihn ans Kreuz genagelt, um uns zu erlösen, aber nun erlöst du immer weiter, und immer mit Kreuzen, nicht wahr? Auch diese Kinder fehlten dir noch, einundsiebzig in zehn Dörfern, und es ist schon eine Gnade, daß es nicht siebenzig mal sieben waren. Du weißt sehr gut, daß sie ohne Sünde waren, aber die Eltern hatten es nötig, etwas bestraft zu werden, nicht wahr? Besonders diejenigen, die an deiner Kirche bauten. Wenn du Richter in einer Stadt wärest und sie brächten dir einen Mann, der die Kinder eines Hauses erschlagen hat und der zu dir sagte: ›Jawohl, ich habe sie erschlagen, weil die Eltern zu fröhlich waren und Gott vergaßen. Sie sollten etwas ernster werden‹, dann würdest du sagen: ›Recht hast du gehandelt, Mann, denn du hast so gehandelt wie ich. Gehe in Frieden, und wo Eltern fröhlich sind, überall auf dieser Erde, da erschlage ihre Kinder!‹ Nicht wahr, so würdest du doch sagen, du Gott der Weisheit und der Liebe, dessen Sohn gesagt hat, daß man die Kindlein zu ihm lassen solle?«
Und er hob die Faust gegen das Bild des Gekreuzigten und schleuderte das Glas mit dem roten Wein gegen die Wand, daß es wie Blut von der hellen Tapete tropfte. Da hatte es dem Mädchen gegraut, und es war zu seinen Eltern geflohen.
Als die Leute von Sowirog zu ihrem Pfarrer gingen, Männer und Frauen, einen langen Weg bei Schneesturm und bitterem Frost, erinnerten sie sich, wieviel Nächte er an den Betten ihrer Kinder gesessen hatte, und wenn die anderen ihn allein ließen in dem dunklen, leeren Haus, in dem der Atem gefror, so wollten sie ihn doch nicht allein lassen und zu ihm stehen in seiner Not.
Sie fanden ihn auf seinem Bett liegen, in eine alte Pelzdecke gehüllt, die Augen gegen die dunkle Decke gerichtet, und leise vor sich hinsprechend. Als er sie erkannte, setzte er sich auf und sah sie an. So, meinte er, das gebe es also noch, eine sogenannte treue Gemeinde. Aber eine Gemeinde ohne Pfarrer, ja. Er denke, er werde gleich mitkommen mit ihnen und bei ihnen bleiben, er habe es ohnedem vorgehabt, zu sehen, was der liebe Gott nun eigentlich mit seiner Kirche im Sinne habe. Ja, Michael werde ihm wohl die Hütte auf der Insel für den Winter geben. Kälter als hier könne es nicht sein, und über das Wasser zu fahren, werde Gott vielleicht zu beschwerlich sein. So könne er ganz in Frieden leben, einmal noch in Frieden. Mehr verlange er nicht.
Die Augen in seinem verwüsteten Gesicht brannten, aber er ließ sich doch ruhig den Pelz von den Frauen anziehen und seine wenigen Sachen in den Schlitten legen. In jede Tasche seines Pelzes steckte er eine Rumflasche, und dann fuhren sie ab. Auf der Straße standen die Leute des Kirchdorfes, und viele weinten, aber die Männer und Frauen von Sowirog hielten sich dicht um den Schlitten, und so sahen die andern nicht viel von ihrem Pfarrer. Die Luft war weiß vom jagenden Schnee, und in den Hohlwegen legten sie die Hände an die Kufen, damit der Schlitten nicht umstürze. Die Wälder waren graue und schwankende Mauern, der Sturm ging hohl und klagend über die stäubenden Wipfel, und tief in den Dickungen heulte ein Fuchs.
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