»Ohne Hoffnung, Mönchlein?« sagte Jumbo. »Ach nein, kleiner Mann, nicht ohne Hoffnung. Ein Mann, der etwas Rechtes tut, ist niemals ohne Hoffnung. Wer den Mist auf seine dreißig Morgen fährt, wie der Herr von Balk sagt, ist auch nach zehn Hagelschlägen und Mißernten nicht ohne Hoffnung. Weil er der Erde vertrauen kann, verstehst du? Seine Vorfahren haben ihr tausend oder zehntausend Jahre vertraut und haben gesehen, daß sie recht daran getan haben. Sie hoffen nicht nur, sie wissen, daß die Ernte einmal kommen wird. Nur die, die auf die große Gerechtigkeit vertraut haben oder darauf, daß einmal einer ihre Tränen abwischen wird, die wissen nichts. Sie waren nicht bescheiden genug, sie waren nicht Kinder der Erde. Sie wollten nicht ein Stückchen Acker mit Ordnung und Schweiß und Brot, sondern sie wollten das Paradies. Strebe nicht nach dem Paradies, Mönchlein, sondern tue etwas Rechtes mit deinen Händen und deinem Herzen. Treibe alle Chucholleks aus von dieser Welt, denen du begegnest! Es werden nicht alle sein, aber andere tun dasselbe auf ihren Wegen. Nur mache nicht den Teufel aus ihnen, oder das ›böse Prinzip‹ oder sonst einen Popanz, sondern nimm sie, als was sie sind: arme Schächer, die zu unsrer großen Familie gehören, zu der des Menschen.«
Es war ein schöner Herbst für Jons, gefüllt mit junger Ernte, und er behielt ihn lange im Gedächtnis.
Auch für das Dorf war es ein schöner Herbst. Die Tage waren mild und voller Sonne, und während die welken Blätter leise fielen, nagelten sie die Schindeln auf das Kirchendach. Weit konnte man von dort hinaussehen über das Land. Die Wälder waren dahingesunken, aber die Schonungen wuchsen auf, und weit hinter dem See sahen sie ein breites goldenes Band. Das war der Weißbuchenwald, der seit undenklichen Zeiten »Das Paradies« genannt wurde. Die Straße nach den nächsten Dörfern lief zwischen seinen grünen, bemoosten Stämmen dahin, und hier sammelte die alte Frau aus der »Armen Sünde« noch die letzten Steinpilze, wenn im dunklen Fichtenwald schon Schnecken und Würmer die Ernte zerstört hatten. Es war nicht leicht, in der braungoldenen Blätterdecke die dunklen Häupter der Pilze zu entdecken, aber ihre hellen Augen waren noch scharf, und sie erkannte von weitem, was der Erde angehörte und was nur ein Trugbild war für ihre fleißigen Hände, ein Stück Rinde etwa, dunkel und gewölbt, das aus der Ferne wie ein Steinpilz erschien und doch nur ein Stück Rinde war.
Sie erkannte auch von weitem, daß der braungelbe Blätterhügel zwischen zwei vom Winde gestürzten Buchen nicht von demselben Wind zusammengetrieben war und daß der dunkle Ast, der neben dem Hügel lag, anders aussah als die meisten Buchenäste. Sie blieb eine Weile stehen und blickte hinüber. Die Sonne schien still und warm, aber ein kühler Hauch wehte sie plötzlich aus der Tiefe des Waldes an, und sie sah sich schnell um, als stehe jemand hinter ihr. Ein Eichelhäher begann zu lärmen, und aus dem leeren Wald kam das Echo zurück.
Als sie dann das Laub mit den Händen zur Seite gescharrt hatte, langsam und zuletzt nur Blatt für Blatt, blieb sie zu Häupten des Toten sitzen und sah in seine aufgeschlagenen Augen. Sie waren von dem gleichen weißlichen Blau wie der Septemberhimmel, und wer den Toten nicht kannte, mochte meinen, es sei nur der Widerschein der hohen, wolkenlosen Kuppel. Aber sie kannte Michaels Bruder wohl. Sie wischte mit einem Tuch das getrocknete Blut aus seinen Mundwinkeln und saß dann wieder still, die Hände über dem Tuch gefaltet. Sie war nicht neugierig und sie war nicht traurig. Sie hatte viele Tote gesehen, auch Erschlagene, nur den Gerichteten hatte sie nicht gesehen. Aber danach hatte der Tod seine Schrecken verloren. Er war Menschenwerk geworden für sie. Nicht mehr das dunkle Los, das ein zürnender oder richtender Gott über die Erde warf, sondern eine der vielen dunklen Kräfte, deren die Menschenhand sich bemächtigt hatte. Böse, wie das meiste, was aus ihr kam, und hinzunehmen wie Hagel oder Wassernot. Nicht viel Gutes war von ihr zu erwarten, so wenig wie von Gott etwas Gutes zu erwarten war. Auch hier hatte sie zugeschlagen, und vielleicht würde auch der Henker wieder zuschlagen, aber damit weckte man die Toten nicht auf und nahm die Sünde nicht aus der Welt.
Sie hatte nicht gedacht, daß Friedrich der erste sein würde. Ihr Leben war erfüllt von Zeichen, ihre Augen sahen den Schatten über eines Menschen Scheitel. Aber dies hatte sie nicht gewußt. Er war nun der erste, aber er würde nicht der letzte sein. Sie sah noch keinen Grund in ihrem Becher, sie schmeckte nur seine Bitterkeit auf den Lippen.
Die Sonne wärmte ihren schmerzenden Rücken und schien in die Augen des Toten. Da beugte sie sich, um seine Lider zuzudrücken, aber sie mußte ihre Hände lange Zeit auf der Kühle des Todes halten, ehe die Augen sich nicht mehr öffneten. Und auch dann blieb noch ein schmaler Spalt, in den die Sonne sich stahl, und es schien, als blicke der Tote angestrengt und aufmerksam in eine weite Ferne, in der sich etwas bewegte, was er erkennen wollte. Sonst war sein Gesicht ruhig und voller Frieden, ein schönes, reines Gesicht, und nur um seine Lippen lag der Hauch einer kindlichen, erstaunten Trauer.
Die Sonne wanderte in ihren Rücken, die Blätter fielen leise auf sie und den Toten. Sie saß ganz still. Sie zählte keine Stunden, sie dachte nicht an die Mörder. Ab und zu tauchte das Bild ihres Kindes vor ihr auf, aber es glitt wieder fort, und nichts blieb als der goldfarbene Wald und das stille Gesicht zu ihren Füßen. Gut würde es sein, wenn alles zu Ende wäre, die Liebe und der Haß, die Wege durch die Wälder, Hunger und Durst, alles, alles. Aber was bis dahin noch kommen würde, mußte man auf den Rücken laden und tragen, wie man das andere getragen hatte.
Einmal würde doch jemand kommen, wenigstens der Briefträger, und so lange mußte sie schon warten. Wenn seine Mutter nicht bei ihm saß, so mußte sie es sein, und sie glaubte nicht, daß es seine Mutter vom Herde auftreiben und durch die Wälder jagen würde. Nein, alle andern, aber seine Mutter nicht.
Glumsda nahm seine Mütze vor dem Toten ab, aber er fragte nicht viel. Ja, er würde Bescheid sagen und den Gemeindevorsteher schicken. Er war so viel allein gewesen in seinen vierzig Dienstjahren, daß er das Sprechen verlernt hatte, und er hatte so viel gesehen in diesen Wäldern und sich so viele Gedanken dazu gemacht, daß er nichts zu fragen brauchte. Das Fragen war nicht seines Amtes.
Das Dorf empfing die Nachricht wie das Anklopfen von Gottes Faust an seinen Türen. Wie lange war es her, daß jene Nacht gewesen war mit dem Flötenlied über dem See, das Gesicht Kiewitts und der Bienenschwarm über dem Schulhaus? Gott war in den Wäldern und sah zu, wie sie seine Kirche bauten. Er hatte gemahnt, aber sie hatten nicht gehört. Balk wies sie an, keinen Unsinn zu reden, aber sie blieben verstört, und Gogun kniete in seiner Kammer und betete.
Das Gericht hatte festgestellt, daß Friedrich in dem Dorf hinter dem »Paradies« gewesen war, bis kurz nach Mitternacht. Das Mädchen, das ihn eingelassen hatte, war freiwillig gekommen, um auszusagen. Nein, er sei heiter gewesen wie sonst und dazu ein bißchen traurig wie sonst. Er habe oft von seinem Tode gesprochen und daß man ihm nachstelle, aber niemals jemanden genannt. Einen Verdacht habe sie nicht. Nur als er fortgegangen sei, habe er in den Mond gesehen und gesagt, er müsse nun gehen, sie warteten auf ihn. Sie habe gedacht, daß er seine Eltern meine.
Sie weinte nicht. Ihr Gesicht war ganz erstarrt, und sie sah an den Beamten vorbei in den Wald, als winke ihr jemand hinter den Buchenstämmen zu.
Friedrich war erschossen worden. Es war ein kleines Geschoß. Es hatte den Körper durchschlagen und konnte nicht gefunden werden.
»Ganz niedlich, diese kleine Julia«, sagte der Referendar, der aus der Hauptstadt stammte, aber der Amtsrichter ersuchte ihn, gefälligst seinen Mund zu halten.
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