Es war schon spät, als sie aufstanden und sich verabschiedeten. Herr von Balk hatte viel getrunken, aber seine Augen waren nicht fröhlicher geworden. »Laß es sein, Jons, mit der großen Gerechtigkeit«, sagte er. »Habe immer gedacht, daß ein Bauer mit dreißig Morgen, der seinen Mist ordentlich ausfährt, mehr Gerechtigkeit auf den Acker bringt als der Prophet Jesaias. Immer so gewesen. Die Hand ist mehr als der Mund. Wünschte, du kämest zu mir und wärest mein Sohn. Deine Mutter sagt, wäre wenig Ehre dabei, aber ist eine harte Frau, deine Mutter. Aus dem Alten Testament, weißt du. Makkabäerin und so. Nun lebt wohl, bin etwas betrunken, aber anders als euer Pfarrer. Ohne Groll, versteht ihr? Ohne Groll muß man leben, das ist die Sache.«
Sie sahen ihn langsam die Treppe hinaufsteigen, eine hohe, leise gebeugte Gestalt mit etwas gekrümmten Reiterbeinen, während der kleine, verschlafene Page mit dem Ausdruck kindlicher Verehrung in seinem übernächtigen Gesicht ihm eine Stufe tiefer folgte, bereit, ihn zu unterstützen, wenn er dessen bedürfen sollte.
Aber der Herr von Balk bedurfte keiner Unterstützung.
Jons war nun Sekundaner und wurde mit »Sie« angesprochen. Er hatte an seinem Leben nicht viel geändert, außer daß er nun, nach dem Abend mit Herrn von Balk, in seiner freien Zeit mehr als bisher durch die Stadt zu streifen begann. Es waren nun nicht mehr Museen oder Ausstellungen, durch die er langsam ging, sondern eben die Stadt, und zwar nicht die Stadt als solche, sondern ihre Menschen. Die Zeit war gekommen, in der ein Buch ihn mit Mißtrauen erfüllen konnte, und manchmal waren es alle Bücher, die ihn mit Mißtrauen erfüllten. Was Herr von Balk von dem Bauern gesagt hatte, der den Mist auf seine dreißig Morgen führte, beschäftigte ihn lange Zeit.
In den Vierteln, in denen die Wohlhabenden lebten, war nichts für ihn zu sehen, aber in den Vorstädten, wo die Armen wohnten, am Ufer des Stromes, an den Ladeplätzen des Hafens, vor den Kneipen, über deren Tür ein Anker hing oder eine plumpe, glänzende Gallionsfigur, entrollte sich vor seinen Augen eine andere Welt. In ihr wurde eine andere Sprache gesprochen als in den Büchern mit den schönen Einbänden, andre Dinge wurden begehrt, gehaßt und geliebt, als er sie aus der Schule kannte, auf andere Weise auch noch als in Sowirog, und manchmal schien es ihm, als schwanke die Erde leise, auf der er stand, wenn er die Gesichter der Frauen und Kinder sah, die vor den Türen der Destillen wartend standen, Stunde auf Stunde, bis eine schwankende und fluchende Gestalt aus der Tür kam.
Hatte er gewußt, daß es solche Gesichter gab? Und wußte er, weshalb es sie gab? Waren sie diejenigen, für die die Verheißungen des Paradieses geschrieben waren? Aber weshalb mußte gerade über ihnen die Zuchtrute am härtesten geschwungen werden? Wer von den Menschen geschlagen wurde, mußte der auch noch von Gott geschlagen werden? ›Kein schöner Anblick, diese Prügelei‹, hatte Herr von Balk gesagt.
Es geschah ihm nichts auf diesen Wanderungen. Er war aus dem selbstgewebten Anzug herausgewachsen, er trug noch immer Eisen unter den Absätzen, und seine Augen blickten viel zu ernst und tief aus den Schatten der Stirn heraus. »Ist deiner auch drin?« fragte ihn einmal eine der Frauen. Er schüttelte den Kopf, und sie hüllte sich fester in ihr Umschlagtuch. »Ersäufen sollte man sie«, sagte sie, »wie die jungen Katzen. Aber im Abwaschwasser und nicht im Schnaps.«
Nein, »seiner« war nicht darin. Er saß am Meiler und brannte die Kohle, und dazwischen las er in dem großen Buch von dem Hagel, der den Wald hinabging. Auch er war geschlagen, das wußte Jons nun, aber er war ohne Groll. Jons wußte nicht, ob er zweifelte oder voll des blinden Glaubens war. Aber voller Hoffnung war er, das wußte er. Daß aus ihren dumpfen Reihen der Messias kommen würde und daß Jons vielleicht ausersehen war, ihm den Weg zu bereiten.
Der Vater wußte es, aber Jons wußte es nicht. Er begann nun in jene bittersüßen Jahre einzutreten, in denen der Mensch das erste, noch primitive Rüstzeug des Geistes in den Händen hält und, noch nicht weise genug, es an die eigene Person zu setzen, es an die Sockel der Götter legt, die man vor ihm aufgerichtet hat. Und selbst die stillsten Augen begreifen, daß diese Sockel bröckeln. Die meisten erschrecken, legen das Rüstzeug beiseite und werden wieder geduldige Beter zu den Füßen ihrer Propheten und Meister. Über einige fällt der Rausch der jungen Kraft und der Zerstörung, und sie hören erst auf, wenn sie inmitten eines Trümmerfeldes stehen und die Augen der zerschlagenen Götter blind und traurig zu ihnen emporblicken. Sie beginnen dann, zu trinken oder eine Sekte zu gründen.
Einige aber halten inmitten ihrer Arbeit an und sehen sich um. Nachdem sie den Hebel an drei oder vier der Götterbilder gelegt haben, erkennen sie, daß es verlorene Mühe ist, es mit allen zu versuchen. Alle werden schwanken, und nur Kinder brechen tausend Blumen, um zu erfahren, was eine Blume ist. Und nachdem sie erkannt haben, daß man eine schwankende Welt vor ihnen aufgerichtet hat, beginnen sie damit, ihre eigene so fest zu machen, daß sie nicht vor jedem Sturm der Zeiten erbebt. Sie beginnen es auf verschiedene Weise, aber sie enden alle damit, daß sie nicht mehr in das Unsichtbare hinausblicken. Sie wissen wohl, daß es da ist, aber sie wissen auch, daß es dem Menschen nicht gegeben ist, es zu wissen. Sie setzen ihre Grenzsteine zurück, und innerhalb dieser neuen Grenzen beginnen sie nun zu arbeiten. Sie erkennen, daß die Hand soviel wert ist wie der Geist und oft mehr als der Geist. Daß ein ordentlicher Acker mehr ist als eine unordentliche Philosophie und daß der Mensch dazu da ist, die Dämonen zu besiegen, die jahrtausendelang um seine Wiege gestanden haben. Noch ist die Luft erfüllt mit ihnen, mit denen des Hasses, der Gewalt, der Lüge, der Opferung, der Angst, der Rache. Und nicht nur mit denen der Hölle, sondern auch mit denen des Himmels.
Der Kampf gegen sie bringt keine Belohnung, weder im Diesseits noch in einem erträumten Jenseits. Er bringt Einsamkeit und Feindschaft, Leid und Verzicht. Aber er ist alles, was der Mensch aus seinem Leben machen kann. Er ist der Anfang zu einem Tor in eine bessere Zeit. Wer ihn auskämpft, ist wie Moses, nur daß er nicht auf einem Berge steht, sondern am Fuße eines der tausend Hügel, die sich vor dem Berge erstrecken. Wer ihn auskämpft, ist kein Soldat Gottes, sondern ein Soldat der Menschheit, des Kreises also, in den er hineingeboren ist. Es wird nicht danach gefragt, ob er sie haßt oder liebt oder verachtet. Er hat sie so wenig gewählt wie seine Eltern, aber er spricht ihre Sprache, er sitzt an ihrem Herd, er hat zu ihnen zu stehen. Wenn er bitter wird dabei, ist er nicht der rechte Soldat, und auch nicht, wenn er glaubt, daß seine Taten nun in einem Buche verzeichnet werden, über das der Erzengel einen goldenen Griffel hält. Nichts wird verzeichnet, nichts wird aufgeschrieben. Am Abend des Lebens nimmt er den Spaten auf die Schulter und geht davon, ein kleiner Handlanger, namenlos und unbekannt, indes hinter ihm die Mauern aufzuragen beginnen, an denen ihm vergönnt war, seine kleine Pflicht zu tun.
Nicht, daß Jons dies alles erkannt hätte. Aber eine Ahnung davon ging ihm in diesen Jahren auf, und es war ihm gut, daß er am Abend bei Jumbo saß. Am Abend kam die Macht der Rede über Jumbo, der Glanz einer frühen Weisheit, ohne Hochmut und ohne Groll. Er wußte nichts von dem frühen Tode, der ihm beschieden war, und daß in den Arsenalen von Smolensk oder Samara dieser Tod schon auf ihn wartete. Wartete, daß sie beide sich auf den Weg machten, um einander zu begegnen. Aber es war möglich, daß er eine Ahnung davon in seinem Blute trug, die Ahnung eines kurzen Frühlings, der schnell gelebt werden mußte und in dem aller Same auszustreuen war, mit dem die lange Reihe seiner Ahnen ihn bedacht hatte. Viele lebten damals so, an der Wende der Zeiten, Soldaten lange vor dem großen Kriege, und ohne zu ahnen, daß sie auch nach ihm noch lange als Soldat würden leben müssen.
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