Noch einmal stand Jons unter dem hohen Glasdach und sah einem Zuge nach, aber es war nun ein vornehmer Zug, und die Räder der Maschine waren fast so hoch wie er selbst. Er sah Ginas Gesicht hinter einer Fensterscheibe versinken, und es sah aus, als schließe ein graues Wasser sich langsam und für alle Ewigkeit über ihrem Gesicht.
Während er langsam durch die schon leeren Straßen nach Hause ging, in schweren Gedanken und nicht ohne Angst in seinem Herzen, war Gina bis zur Mitternacht damit beschäftigt, die Einrichtungen eines Schlafwagenabteils bis in die geringsten Einzelheiten zu untersuchen. Sie war allein und hatte Zeit, und erst als sie entdeckt hatte, wie man das warme Wasser fließen lassen konnte und wie man die kleine Leiter aufstellen mußte, kleidete sie sich aus, legte sich nieder und sah noch eine Weile zu, wie die blassen Sterne vor dem Fenster standen und die dunklen Umrisse großer Bäume vorüberglitten. Es war nicht so wichtig, ob man lachen konnte oder nicht, dachte sie. Es würde wichtigere Dinge geben, und morgen würde sie damit beginnen, viel langsamer als Gotthold, aber auch auf einem richtigeren Wege.
In der Frühe zeigte sich, daß Gotthold schon eine Bekanntschaft gemacht hatte. Ein Mann in einem weiten, langen Mantel und einer Reisemütze und vielen Ringen an den Händen. Er hatte ein »Kommissionsgeschäft«, und er glaubte, Gotthold unterbringen zu können. Für weibliche Kundschaft wie geboren, meinte er mit höflichem Lächeln. Er verbarg sein Erstaunen nicht ganz, als er Gina erblickte, und bot ihr sofort seine Hilfe an. Er habe auch einen Schönheitssalon, als stiller Teilhaber, und sie könne sofort eintreten. Aber Gina dankte kühl, sie habe ihre eigenen Pläne. »Du würdest das besser lassen«, sagte sie leise, als sie schon durch die Vorstädte fuhren, aber Gotthold lächelte nachsichtig. »Kleine Unschuld vom Lande«, erwiderte er, »ich brauche ein Sprungbrett, nichts weiter.«
Er stieg mit dem Mann im Mantel am ersten Stadtbahnhof aus, bat Gina, ihm Nachricht zu geben, sobald sie eine Stellung habe, und verschwand im Gewühl, ohne sich einmal umzudrehen.
Gina ließ ihren Koffer auf der Bahn, trank auf dem Bahnsteig eine Tasse Kaffee, sah in Gedanken jede Straße auf dem Stadtplan, den sie sich in der Kreisstadt besorgt hatte, so deutlich vor sich, als trüge sie ihn in der Hand, und ging langsam, ohne Angst oder Verwunderung zu zeigen, bis zu dem Hotel, bei dem sie zuerst anfragen wollte. Es war nicht eines der ersten, aber es erschien ihr trotzdem wie ein Schloß, und der Mann, der vor dem schimmernden Eingang hoheitsvoll stand, wie der Wächter vor einem Feenpalast.
Nein, es sei nichts zu machen, sagte er bedauernd wie ein großer Vater, nachdem er sie angehört hatte. Schade, denn sie würde in Schwarz sehr niedlich aussehen. Solle mal nebenan versuchen, wenn er sie der Konkurrenz auch nicht gönne. Beim drittenmal gelang es ihr. Der Portier führte sie selbst zum Eingang für Hotelangestellte, schob sie in eine Bürotür, sagte, da sei eine »Kleene vons Land« mit »'ner wohlgefällijen Schnute« und überließ sie dann mit einem väterlichen Nicken einem jungen Herrn, der seine Fingernägel feilte. Auch er war voller Teilnahme, die Gina vorsichtig erwiderte, und lange nach Mitternacht lag sie schon in einer glühendheißen Kammer unter dem Dach, mit schmerzenden Füßen und benommenem Kopf, aber zufrieden und ganz gewiß, daß sie auf der ersten Stufe stehe, auch wenn sie von dem Trinkgeld absah, das die amerikanische Familie ihr bei der Abreise in die Hand gedrückt hatte.
Zur selben Zeit hielt Gotthold, ziemlich betrunken, in einem nicht ganz sauberen Keller, eine Rede auf die Liebe und die Freundschaft, von Beifall und Johlen einer zahlreichen Gesellschaft begleitet, indes der Herr im Mantel einigen der bevorzugten Gäste lächelnd zublinzelte, mit dem Ausgang des Tages anscheinend ebenso zufrieden wie sein redseliger »Volontär«.
Die gleichen Sterne standen über dem dunklen Haus am Herzogsacker, derselbe leise Wind ging um sein Dach. Jons schlief in seinem schmalen Bett, und seine Brust hob und senkte sich ruhig in dem kühlen Luftzug, der durch die geöffneten Fenster hereinkam. Jumbo schloß mit einem leisen Seufzer das Bürgerliche Gesetzbuch, rauchte, auf der Fensterbank sitzend, noch eine kurze Pfeife, trank in kleinen Schlucken seinen Schlummerpunsch und dachte an das schöne Mädchen mit der scharfen Falte zwischen den Augenbrauen und den gefährlichen Windhund, der ihr Bruder war und den dieselbe Mutter geboren hatte, die Jons geboren hatte. ›Wenn der liebe Gott wüßte, was er alles vorhat mit seinen Menschenkindern‹, dachte er, ›dann könnte man ihm eine schöne Sache anhängen, und ich denke, daß das Bürgerliche Gesetzbuch nicht ganz ausreichen würde dazu ...‹
Die gleichen Sterne standen über dem Dorfe Sowirog, nur daß sie heller und klarer leuchteten und daß der Wind nach dem Wasser roch, von dem er kam. Frau Marthe lag allein in ihrer Kammer, die Hände über der Brust gefaltet, mit strengem Gesicht, und durch ihren Traum zog ein Schiff mit einem großen weißen Segel, hell und ruhig, aber unter dem Mast standen ihre Kinder in einem losen Kreise und starrten auf etwas nieder, das zwischen ihren Füßen liegen mußte. Sie bewegte sich unruhig, um zu erkennen, was es sei, aber es gelang ihr nicht. Immer sah eines der Kinder scheu über seine Schulter zurück und trat dann einen halben Schritt zur Seite, damit sie nicht sehen könne, was dort liege. Aber es war ihr, als könnte es ein Toter sein.
Zur gleichen Stunde lag Friedrich vor der Rohrhütte auf der Insel, den Kopf an die warmen Halme gelehnt, und blies ein Lied auf seiner Flöte, während ein Mädchen aus einem entfernten Dorf, fast noch ein Kind, ihn mit den Armen umschlungen hielt und den Kopf an seine Brust gelegt hatte. Ihre Augen blickten über das schwarze Wasser nach dem Walde, über dem die schmale Sichel des Mondes hing, und ihr helles Haar bewegte sich leise unter dem Hauch der Flöte, die Friedrich spielte.
Es war ein trauriges Lied, eine Folge klagender Töne, die von Stufe zu Stufe fielen, langsam, sich wiederholend, bis sie mit immer der gleichen bangen Frage endeten. Sie waren wie ein müder Regen, der auf einen Herbstwald fällt, von Blatt zu Blatt, oder wie ein Wind, der um die Schilfränder geht. Sie waren der einzige Laut in der großen schweigenden Nacht, und man konnte meinen, daß die Erde still vor sich hinspreche in ihnen, die umgebrochenen Äcker und die wachsenden Saaten, das immer Wiederkehrende und Vergehende, das doch ohne Freude war, weil es das Ewige war, Gehorsam und Verzicht, und nur der flüchtige Menschenfuß ging mit Lust und Klage über sie hin.
»Spiele nicht mehr«, bat sie, »das Herz tut mir weh.«
Er nahm die linke Hand von der Flöte und legte sie um ihre junge Brust, aber mit der rechten spielte er weiter, noch weniger Töne, noch mehr Traurigkeit. Nur einmal setzte er die Flöte ab, beugte sich über das Gesicht des Mädchens, das nun von Tränen überströmt war, und sagte: »Du mußt mich nicht hindern ... etwas wird leichter in mir, wenn ich spiele, und vielleicht ist es mein letzter Sommer ... manchmal fürchte ich mich vor der Nacht und denke, daß hinter der Hütte einer steht.«
»Keiner steht da«, sagte sie.
»Viele sagen, daß ich ein Zauberer bin«, fuhr er fort, »und daß ich eure Herzen bestricke. Und viele sind mir feind, daß ich so bin, wie ich bin. Aber ich kann nicht dafür ... vielleicht kann die Mutter dafür ... nimm nun dein Boot und fahre, damit keiner etwas merkt.«
Sie gehorchte stumm, und eine Weile hörte er zu, wie die leisen Ruderschläge verklangen. Das Wasser war schwarz, ein dunkler, gefährlicher Spiegel, und es fröstelte ihn, wie er die Bilder der Sterne in der grundlosen Tiefe sah. Und dann spielte er weiter, den Kopf zurückgelehnt, immerzu, indes der Tau in sein Haar fiel und der Mond hinter dem schwarzen Wald versank.
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