»Hör mal«, sagte Gotthold von der Lampe her, »was willst du eigentlich später mit diesem Kram anfangen, hm?«
»Oh, ich weiß noch nicht. Vielleicht werde ich einmal Arzt werden. Wahrscheinlich aber Pfarrer.«
»Soso. Lobe den Herrn, meine Seele, und so weiter. Gina sagt, daß sie eine Kirche bauen zu Hause, und alle Goguns, Daidas und Gonschors werden dein Haupt mit Öl salben.«
»Man muß nicht so sprechen«, sagte Jons leise.
»Muß man nicht? Nun, können es auch unterlassen. Aber in ein paar Jahren werde ich euch eine Glocke schenken, oder zwei. Die Jerominglocken, nicht wahr? Dann wird einer von uns auf der Kanzel stehen und der andere vom Turm rufen, Frau Ilsebill wird ihre harten Hände falten, und Herr Czwallinna wird Buße tun ... Was ist übrigens aus dem Geld geworden, Gina, das damals verschwand? Hat Korsanke keinen Täter gefunden?«
Sie sah ihn finster an. »Da du fortgingst, konnte er ihn nicht gut finden«, sagte sie, »aber es ist wohl besser, du schweigst hier davon.«
Gotthold pfiff lächelnd vor sich hin, und Jons hielt Ginas Hand mit beiden Händen. »Es ist nicht wahr, Schwester?« fragte er flüsternd.
»Laß es sein, Jons«, sagte sie. »Junge Männer sind so eitel und so dumm wie Pfauen.«
Ja, nun sollten sie essen fahren, meinte Gotthold und sah nach der Uhr. Sehr viel Zeit hätten sie nicht mehr. Ob er noch einen anderen Anzug habe? Aber Jons antwortete nicht. Er hängte die Decke über den Buchfinken, räumte seine Bücher und Hefte auf, stellte die Lampe zurück an die Wand und strich das Bett glatt, auf dem sie gesessen hatten.
»Auch dich hat die Mutter nicht verlassen«, sagte Gina nachdenklich. »Keiner von uns entgeht ihr ganz.«
Aber als sie aus der Kammer gehen wollten, stand Jumbo in der Tür. Hinter seinen Brillengläsern waren die Augen etwas traurig und etwas spöttisch wie immer, aber sie sahen sehr aufmerksam auf die beiden fremden Gesichter und dann auf Jons. »Wollte dich eben holen, Mönchlein, zu mir ... ist ein trauriger Abend, an dem man leicht zu viele Gläser füllt ... und sind dies deine Geschwister?«
Er stand ebenso ruhig da wie sonst. Jons hatte noch niemals gesehen, daß etwas ihn in Erstaunen setzte. Ja, erwiderte Jons verwirrt, das seien Gotthold und seine Schwester Gina. »Man nennt mich Jumbo«, sagte der Student, »und wir beide sind große Freunde, was bei Jons gar nicht so einfach ist.«
Oh, essen wollten sie gehen? Aber wäre es nicht schöner, sie kämen zu ihm? Er hätte ein großes Paket von Hause bekommen, und Restaurants seien widerlich. Fremde Menschen in Massen essen zu sehen, sei kein schöner Anblick, und Jons würde sicherlich ein Glas zerbrechen, »nicht wahr, Mönchlein?«
Ja, Gina wollte gern zu ihm kommen, und Gotthold begnügte sich damit, leise die Schultern zu heben. »Was ist er?« fragte er leise in dem dunklen Gang. »Student? Soso, Jurist ... na meinetwegen.«
Es war so behaglich bei Jumbo wie immer, und es war ein Wunder für Jons, wie schnell und geschickt er den Tisch deckte und alles herbeibrachte, was er bekommen hatte. Es gab sogar einen süßen Schnaps für Gina und dann für alle Bier, das unter der Wasserleitung stand. »Jons trinkt nicht«, sagte Jumbo. »Ich habe noch niemals einen so ordentlichen Menschen gesehen. Seid ihr alle so ordentlich?«
Gotthold fand es etwas formlos, wie dieser Knabe mit der Brille sich zu ihnen benahm, aber Gina nickte ihm zu. »Nicht alle«, sagte sie, »aber jeder trägt ein Stückchen Erbe mit sich ...«
Ja, er auch, meinte Jumbo, und sah sie nachdenklich an. Er trinke zum Beispiel etwas mehr, als nötig sei. Aber nur solange, bis die Welt ihm etwas heiter erscheine, ein heiteres Theater, wo nur auf den hintersten Sitzen ein paar Leute heimlich weinten.
»Und ist sie nicht heiter?« fragte Gina.
»Ach nein, mein liebes Fräulein, das ist sie nicht, ganz und gar nicht. Der liebe Gott hat sich da ein bißchen versehen, und Leute wie unser Jons müssen nun ihr ganzes Leben damit zubringen, den Menschen klarzumachen, daß es ein weises Versehen gewesen ist. Wenn er dabei bleibt, heißt das. Aber ich glaube nicht, daß er dabei bleiben wird. Ich denke, daß er Arzt werden wird wie ich, und die Ärzte behaupten nicht, daß dies die beste aller Welten sei.«
»Ich denke, Sie sind Jurist?« fragte Gotthold, so nachlässig, als sei er schon durch alle Fakultäten gegangen.
»Auch das, mein Lieber«, erwiderte Jumbo, »und ich war sogar schon Theologe. Mein Vater glaubt es sogar noch heute. Aber es sind schlechte Spaziergänger, die immer nur eine Straße marschieren. Die Wahrheit sitzt mal hier und mal da, auf einem Stein am Straßenrand, und wartet, daß wir ihr begegnen.«
»Ja, wenn Sie beide auf die Wahrheit warten ...«, und er sah spöttisch zu Jons hinüber. »Wir warten auf andre Dinge.«
»Wer ist ›wir‹?« fragte Gina.
»Oh, entschuldige ... Die Armen warten auf Geld, Herr Jumbo, und nicht auf die Wahrheit.«
»Soso ... tun sie das? Dieser Arme hier zum Beispiel«, und er legte die Hand um Jons' Schulter, »wartet nicht auf Geld, sondern auf die Gerechtigkeit. Das Recht in der Wüste und die Gerechtigkeit auf dem Acker, nicht wahr, Mönchlein?«
Jons nickte und sah seine Schwester an, aber sie blickte vor sich hin, mit der tiefen Falte zwischen den Augenbrauen, die er kannte.
Ja, und nun führen sie in die Hauptstadt, meinte Jumbo weiter. Es könne sein, daß das Geld dort auf der Straße liege, wenn auch meistens etwas sehr tief im Schmutz, aber die Gerechtigkeit sei am Meiler vielleicht noch eher zu finden als dort. Und das Fräulein suche sicherlich noch ganz etwas anderes, nicht wahr?
Ja, sagte Gina ohne Zögern, sie suche die Macht.
Jumbo nickte und stopfte sich nachdenklich eine kurze Pfeife. Soviel er von der Welt und der Schönheit wisse, werde sie wahrscheinlich am schnellsten von ihnen das Ziel erreichen. Ja, und doch hätte sie lieber eine Großbäuerin werden sollen ... für arme Eltern sei es immer leichter, wenn ihre Kinder keine Krone auf dem Kopfe trügen. Sie seien dann geneigt, sich eine aus Blech machen zu lassen und ein Rad zu schlagen, oder sich Asche auf das Haupt zu streuen.
»Nicht Frau Ilsebill!« sagte Gina hart.
Ja, Frau Ilsebill ... das sei auch nur ein Märchen, wenn auch ein weises Märchen ... aber wie es denn mit Vater Jakob stehe? So einiges wisse er ja auch von ihnen. Und er könne sich wohl denken, wie er um diese Stunde am Meiler sitze und in den leeren Wald blicke. Sieben Kinder ... aber manchmal seien auch sieben noch nicht genug, um das Brot für die letzten Tage zu backen. Sein Vater habe nur eines, nur ihn, und er wisse nicht einmal, daß sein Sohn nicht mehr Pfarrer werden wolle.
Sie hörten ihm schweigend zu, und es schien ihnen allen, als wisse er das meiste vom Leben, mehr als sie alle zusammen, eine freundliche, etwas traurige Wissenschaft, und als wisse er noch viel mehr, als was er ihnen hier erzähle.
Dann sah Gotthold nach der Uhr, und sie mußten aufbrechen. Jons wollte sie noch begleiten. »Wissen Sie, Fräulein Jeromin, was die Mächtigen am leichtesten verlernen?« fragte Jumbo noch in der Tür. »Das Lachen, Fräulein Jeromin. Und das ist wie im Märchen: man findet es niemals wieder.«
»Nun, Herr Jumbo«, sagte Gotthold leutselig, »schreiben Sie mir mal eine Ansichtskarte, wenn Sie alle Fakultäten durch sind, nicht wahr?«
Jumbo nickte, aber seine Augen waren ganz ernst. »Wenn ich bei meiner jetzigen bliebe, würde ich Sie wahrscheinlich wiedersehen«, erwiderte er. »Aber als Arzt ist es nicht wahrscheinlich, sehr wenig wahrscheinlich ...«
Erst auf der Straße schlug Gotthold mit den Handschuhen durch die Luft. »Ein ziemlich dreister Patron, dein Herr Jumbo«, sagte er zu Jons.
»So?« meinte Gina. »Ich denke, er ist nur ehrlich und klug.«
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