Aber eines Nachmittags, als es schon zu dämmern begann, trafen sie in der Haustür zusammen. Der erste Schnee fiel, und sie waren beide vor den Toren gewesen, um ihn zu sehen. »Ja, kleiner Mann«, sagte Jumbo und reinigte seine Brille mit einem Taschentuch, »nun schneit es zu Hause, und das Heimweh kommt, nicht wahr?«
Er setzte seine Brille wieder auf, legte den Arm um Jons' Schultern und stieg mit ihm zusammen die Treppen hinauf. »Auch auf Chuchollek wird es nun schneien«, fuhr er fort, »es schneit immer auf Gerechte und Ungerechte. Möchtest du, daß er im Schnee umkommt?«
»Nein«, erwiderte Jons, »nicht mehr. Aber woher wissen Sie es?«
»Ach, kleiner Mann, ich weiß viel von dir. Ich lebe in meiner Bude wie eine Spinne im Netz, und wenn ihr euch rührt, merke ich es. Ich höre deine ordentlichen Absätze, und es ist mir so wie zu Hause. Die andern sind alle Statisten, weißt du, Statisten der Bildung, aber mit dir ist es richtig. Du kommst aus dem Wald, und du wirst etwas werden, Pfarrer oder Landrat oder so was. Und du willst es nicht werden, um einen Titel und Gehalt zu haben, sondern um den Menschen zu helfen, das sehe ich dir an den Augen an. Ein schwerer Gang, Mönchlein, ein schwerer Gang ...«
Er atmete hastig, weil die Treppen steil waren, und steckte dann den Schlüssel ins Schloß. Er war der einzige, der einen Schlüssel besaß. »Komm noch etwas zu mir, Mönchlein«, sagte er, »und erzähle mir von deinem Meiler. Ich will uns einen Punsch brauen, weil es schneit.«
So kam Jons in Jumbos Reich. Es war behaglicher als in seiner Kammer, viele Bücher, ein altes Sofa und ein kleiner Ofen, in dem das Feuer brannte. Jumbo hatte kein Gaslicht, sondern eine Petroleumlampe, er zog die Vorhänge zu, nahm Wasser aus dem Kessel auf dem Ofen und suchte unter seinen Flaschen, die unten im Kleiderschrank standen. Es schienen Jons sehr viele Flaschen zu sein.
Jons dankte, aber er bekam doch ein paar Tropfen aus einer Flasche in sein Glas. »Trink nur«, sagte Jumbo, »das wirft dich nicht um. Mein Vater ist Gastwirt in einer kleinen Stadt, und alle Söhne von Gastwirten trinken. Ich auch. Teils dieserhalb, teils außerdem. Das Leben ist nicht sehr schön, weißt du, wenn man etwas näher zusieht, und deshalb haben sie auch das Jenseits erfunden, damit die Menschen sich nicht alle umbringen.«
»Aber ist es nicht schön, Student zu sein, Herr Jumbo?« fragte Jons verwirrt. »Und alles zu lernen, was es gibt? Und einmal die Gerechtigkeit auf den Acker zu bringen?«
Jumbo setzte sein Glas ab und sah Jons mit seinen runden, bekümmerten Augen an. »Was hast du da gesagt, Mönchlein? Die Gerechtigkeit auf den Acker zu bringen? Wo hast du denn das her?«
»Das ist von meinem Vater, und es steht beim Propheten Jesaias, im zweiunddreißigsten Kapitel.«
»Siehst du, hab' ich nicht gewußt, daß du ein Weltverbesserer werden willst? Alle haben sie solche Augen, die im Alten Testament und im Walde leben, und dann kommen sie in die Stadt, aufs Gymnasium, und lassen sich mit Bildung füllen. Und wenn sie erkannt haben, daß es nur Zinnober ist oder Schiet, wie sie bei uns zu Hause sagen, dann glauben sie, daß es nun auf der Universität kommen wird, die große Weisheit. Und wenn sie erkannt haben, daß es auch da nur Zinnober ist oder Schiet, dann fangen sie an, Punsch zu trinken, so wie ich.«
»Aber Herr Jumbo ...«
»Nun höre mal zu, Mönchlein. Es gibt sehr wenig Herren auf dieser Erde, verstehst du, und ich bin keiner von ihnen. Und wenn du auch der erste höfliche junge Mann bist, den ich kennengelernt habe, so sage nur ruhig ›Jumbo‹ zu mir. Und sage auch ruhig ›aber‹. Das ist ein gutes Wort, und ich denke, daß wir beide auch damit sterben werden. Nur daß der gute Gevatter Tod sich nicht sehr darum kümmern wird.«
»Und was wollen Sie denn werden ... Jumbo?«
»Ich? Ja, siehst du, ich soll Pfarrer werden, wie du wahrscheinlich auch. Mein Vater ist Gastwirt, weil sein Vater Gastwirt war, und er trinkt auch, weil sein Vater getrunken hat. Aber wenn er die nötige Menge intus hat, dann geht er in sein Kämmerlein und weint und betet zu Gott und verflucht seine Gäste. Solch ein Gastwirt ist das, siehst du. In Rußland gibt es das noch, aber bei uns ist es ein Unikum. Ein Sünder ist er, und er weiß, daß er einer ist. Und deshalb soll ich Pfarrer werden. ›In Gottes Namen‹, habe ich gesagt, und ich habe es auch versucht. Aber dann war es aus. Die Alma mater, weißt du, ist ja schon an und für sich ein komisches Huhn, aber die Küchlein, die sie in der theologischen Fakultät ausbrütet, die sind eine besondere Nummer. Die Theologie ist nämlich eine Wissenschaft, verstehst du? Eine Wissenschaft! Mit Hebräisch, Griechisch und Latein, mit Seminaren und Examen, mit Professoren und Studenten, mit Kollegs und Übungen. ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‹ Besinnst du dich? Aber nun, du lieber Gott! Christus wählte seine Jünger aus den Fischern aus, aber nun wählt der liebe Gott seine Diener aus den Abiturienten aus. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Mönchlein, daß du ein Seelsorger nur werden kannst, wenn du das Abitur hast? Und zwar von einem humanistischen Gymnasium?«
Er füllte sich wieder ein Glas mit heißem Wasser und holte eine andere Flasche aus dem Schrank. Dann stopfte er den Kopf einer ungeheuren Pfeife aus einer Schweinsblase mit Tabak, zündete ihn an und rauchte, und Jons dachte, daß er nun aussehe wie ein trauriger Gott auf einer Wolke.
»Und nun?« fragte er bedrückt.
»Nun? Nun studiere ich Jura, Mönchlein, heimlich, weil mein Vater immer noch glaubt, daß ich in seiner Kirche einmal auf der Kanzel stehen werde. Aber in einem Jahr, denke ich, werde ich Medizin studieren und dabei wohl bleiben. Denn auch mit deiner Gerechtigkeit auf dem Acker ist es Zinnober, kleiner Mann. Wenn du Richter bist, bekommst du ein kleines Amtsgericht in einer kleinen Stadt, und das ist alles, was von deinem Acker übrigbleibt. Machst du die Gesetze, Mönchlein? Die sind längst gemacht. Ein kleiner Diener bist du an einer ungeheuren Maschine, und das ist alles. Aber wenn du Arzt bist, in einem eurer Waldwinkel da, dann gibt es keine fertigen Gesetze für dich. Dann hast du nur deine Hand, dein Auge und dein reines Herz. Wenn es dir gelungen ist, es in den Hörsälen und Kliniken rein zu bewahren. Und das ist nicht einfach, Mönchlein.«
Jons hörte zu. Die Lampe warf einen hellen Schein auf die dunkle Tischdecke, die Bücherregale standen in der Dämmerung, und der blaue Tabakrauch zog wie ein schwerer Nebel über Jumbos Gesicht. Draußen schneite es, und auch Herr Stilling würde an seiner Lampe sitzen und an die Gerechtigkeit denken. Ganz von fern hörte er den Lärm aus der großen Stube in der Pension, und es war ihm, als habe der Student ihn tief in den Berg geführt, in eine verzauberte Welt, von der er nichts gewußt hatte.
»Du mußt nicht glauben, daß ich faul bin, Mönchlein«, sagte er nun. »Das bin ich nicht. Ich bin sogar sehr fleißig, und ich trinke auch nur am Abend, um mich von all den Gesichtern zu erholen. Und weil ich eines Gastwirts Sohn bin. Aber du kannst nun am Abend immer ein Weilchen zu mir kommen, hörst du? Es tut mir gut, deine Augen anzusehen. Auch ich hatte mal solche Augen, und mein Vater vielleicht auch. Die Welt ist kein gutes Objekt für unsere Augen, und es ist eine große Weisheit, daß man sie uns im Tode zudrückt. Und nun erzähle von deinem Meiler, Mönchlein, und was dein Vater für ein Mann ist, wenn er im Propheten Jesaias liest. Wunderliche Leute leben da unten in euren Wäldern, und ich höre gern von ihnen. Sie riechen noch nach Brot und Rauch, weißt du, und Gott hat für sie noch einen weißen Bart.«
Jons erzählte, aber hinter seinen Worten hörte er immer Jumbos Stimme und wie sie ohne Bitterkeit seine Welt entzauberte. In seiner Schule wurden solche Dinge nicht gesagt, außer daß Charlemagne sie unter seinen Büchern einmal andeutete. In seiner Schule wurde viel von »Idealen« gesprochen, und es war immer ein großes Wort für ihn gewesen, wenn auch nicht viel mehr als ein Wort. Aber er dachte, daß er noch zu jung sei, um es zu verstehen. Jumbo aber mit seinen stillen Augen schien ihm mehr von der Welt zu wissen als die Professoren mit grauen Bärten. Er hatte vielleicht keine Ideale, aber er wollte den Leuten im Walde helfen. Er hatte es aufgegeben, Gerechtigkeit auf den Acker zu bringen, aber er wollte ihnen Gesundheit bringen, er wollte ihre Schmerzen lindern, und vielleicht war das nötiger als Gerechtigkeit.
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