Um den großen Tisch im Eßzimmer standen und saßen die anderen Pensionäre. »Hallo, der Prärieläufer!« sagte der Größte von ihnen. »Komm her, mein Sohn, und atze dich an dem, was die Hexenküche uns zubereitet hat.«
Die anderen lärmten weiter, und nur einer fragte ihn, ob er mal versuchen wolle, seinen ausgestreckten Arm zu biegen. Sie sprachen in erschreckenden Ausdrücken von ihren Lehrern, ihren Pferden und ihrer Zigarrensorte. Sie waren alle älter als Jons, und der, der ihn angeredet hatte, trug schon den Anflug eines Schnurrbartes und hatte eine tiefe Stimme wie der Krugwirt Czwallinna. »Iß ordentlich, mein Sohn«, sagte er. »Wenn etwas übrigbleibt, prügeln sich die Parzen darum, und wenn nichts übrigbleibt schimpfen sie nur auf uns.«
Wer die Parzen seien, fragte Jons bescheiden.
»Die Parzen, mein Sohn, sind die drei Damen in Schwarz, denen dieser Saftladen hier gehört. In der Mythologie waren es diejenigen, die mit der Schere auf die menschlichen Lebensfäden losgingen, soweit ich mich erinnere.«
Alles war verwirrend und schwer zu begreifen, aber sie waren freundlich und herablassend, und Jons dachte, daß es mit ihnen schon gehen würde.
Dann war er zur Schule gegangen. Er hatte sich den Weg gut gemerkt, und er vergaß keinen Weg, den er einmal gegangen war. Es gab viele Dinge zu sehen außer der Pferdebahn, und am seltsamsten schienen ihm die großen Steinplatten, auf denen er ging und auf denen seine eisenbeschlagenen Stiefel so deutlich zu hören waren wie die Hufeisen eines Pferdes. Niemand kümmerte sich um ihn, niemand sah ihn an, und nur ein blasser schielender Bäckerjunge, der vom Brötchenaustragen kam, schien Mißfallen an ihm zu empfinden, spuckte durch eine Lücke in seinen Vorderzähnen und sagte: »Na, du Singbüdel?«
Jons wich etwas zur Seite aus und dachte während des ganzen übrigen Weges nach, was wohl ein Singbeutel sein könne. Es war ihm nur klar, daß es keine Freundlichkeit bedeutete.
In der Schule wußte er bald, daß die Stunden besser waren als die Pausen. Zwar war keine so wie bei Herrn Stilling, und auch keiner der Lehrer war so, Herrn Charlemagne vielleicht ausgenommen. Sie waren alle so schrecklich verschieden, wie sie aussahen, wie sie sprachen, was ihnen gefiel oder mißfiel. Einige waren wie Götter, vor denen man opfern mußte, aber die meisten waren freundlich, wenn man auch nicht immer erkannte, was in ihnen schlummerte. Nur der Lehrer der Mathematik fand, daß Jons zu langsam denke. Es fiel ihm nicht auf, daß die meisten der anderen gar nicht dachten oder daß sie schnell, aber falsch dachten. Er war ein beweglicher, unruhiger Mann, und seine Augenlider zuckten so, daß Jons dachte, er sei krank. »Wunderdinge haben sie von dir erzählt«, sagte er, »aber du machst immer so, als ob du die vierte Dimension erfinden sollst, wenn du eine Linie zu ziehen hast. Bremser beim Leichenwagen warst du wahrscheinlich zu Hause, was?«
»Wir haben keinen Leichenwagen«, sagte Jons. »Wir tragen die Särge auf den Schultern.«
»So ... vielleicht kommt es auch daher.«
Die Klasse lachte, aber der Professor sah Jons noch eine Weile nachdenklich und mißvergnügt an, ehe er fortfuhr.
Von der ersten Stunde an saß Jons wie eine gespannte Feder da. Er sah mit Erstaunen, daß die anderen spielten oder unter der Bank lasen oder Unfug trieben. Sie hatten kein Bedürfnis zu lernen, aber er wollte nichts anderes, als alles das begreifen und behalten, was diese Männer lehrten, die so aussahen, als wüßten sie alles, was seit der Erschaffung der Welt geschehen war. Er wußte, ohne darüber nachgedacht zu haben, daß ein schreckliches Heimweh ihn überfallen und zerbrechen würde, sobald er nur für eine Minute aufhörte, in dieser Welt des Geistes mit allen Fasern zu graben und zu arbeiten. Er war jünger als alle anderen in der Klasse, aber wer auf seinen Mund und seine Augen blickte, sah, daß er der älteste unter ihnen war, nicht nur an Eifer und Denken, sondern auch an Einsamkeit und stillem Leid.
In den Pausen fühlte er es selbst. Er ging wohl mit den andern auf und ab, er spielte auch und setzte sich zur Wehr, wenn es nötig war. Aber er war nicht zu Hause bei ihnen. Er kam aus einer andern Welt, in der das Spiel eine Sache des Sonntags war und in der der Alltag mit Dingen gefüllt war, die man hier nicht kannte. Auch hier gab es Arme, aber es war eine städtische Armut, die in geflickten Kleidern noch mit Hochmut auf seinen gewebten Anzug blickte. Er war ihnen zu ernst, zu streng, zu gerecht, selbst bei ihren Spielen, und der Name »Ehrwürden« blieb nun bei ihm, solange er auf der Schule war.
Als die ersten Wochen vorübergegangen waren, ohne daß man ihn entlassen oder gesteinigt hätte, begann er, sich freier umzublicken. Er sah, daß ihm alles leicht wurde, was man ihm in den Stunden vortrug, und er wußte, daß er darin bestehen würde. Er schrieb an Herrn Stilling, daß er keine Sorgen zu haben brauche, und an seinen Vater, daß die Armen doch nicht so arm seien. Auch sei es in der Schule nur selten, daß man die Reichen bevorzuge. Was ihn mitunter behindere, sei, daß er zu langsam denke, wie der Professor der Mathematik sage. Aber das komme vielleicht vom Meiler her, wo man alles verderbe, wenn man nicht langsam und gründlich sei.
Er schrieb nicht, daß die Menschen ihm mehr Sorge machten als die Dinge. Schon mit den Lehrern war es nicht einfach. Es war ihm vom Dorfe her selbstverständlich, daß er zu ihnen aufblickte wie zu den Propheten, an die sein Vater glaubte, und Herr Stilling war ihm immer ein heiliger Mann gewesen. Er lebte nach den Geboten und der Heiligen Schrift, und er tat nie etwas anderes, als was er sie lehrte. Aber hier taten nicht alle so. Es gab einige, die so eitel waren wie Mädchen, und einige, die wie ein Apriltag waren, fröhlich und zornig nach Laune, einige, die unsauber und träge waren, einige, die ungerechte Richter waren, und einen, der trank. Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Es machte ihn nicht fröhlich wie seine Kameraden, an seinen Lehrern einen Mangel zu entdecken, sondern verwirrt und traurig. Es stimmte nicht mit dem Leben überein, das er geführt hatte. Er wußte nicht, daß sie im Walde um hundert Jahre zurück waren und daß die Zeit schon über viele Dinge lächelte, die ihnen dort noch unberührt und heilig waren. Er merkte aber, daß der Acker, auf den er die Gerechtigkeit bringen sollte, größer war, als sein Vater gemeint hatte.
Auch mit seinen Kameraden fiel es ihm schwer. Sie waren wohl nicht schlechter als die im Dorfe, aber sie lebten in einer fremden Welt. Von den meisten wußte er nicht, weshalb sie zur Schule gingen. Manche waren unsauber in ihren Gedanken, und manche waren roh, und diejenigen, die es nicht waren, erfüllten ihre Tage mit Dingen, von denen er nichts wußte. Am meisten bedrückte ihn, daß der Spott ihnen so lose in den Augen und auf den Lippen saß. Er glaubte, daß er aus einem kalten Herzen kommen müßte, und es erschreckte ihn, daß er auch vor den Leidenden nicht haltmachte, vor den Törichten, den Betrunkenen, den Alten und Hilflosen. Er dachte manchmal, wie es sein würde, wenn sein Großvater ihn besuchen käme und auf dem Schulhof stände, und seine weißen Haare und seine hellen Augen, die so viel gesehen hatten, würden nun ein Spott und ein billiges Vergnügen für seine Kameraden sein. Oder gar der Hirt Piontek mit seiner Ringschleuder und dem Rindenhorn, und er hatte doch einen Werwolf gebannt.
So schien es ihm besser, still für sich zu sein und immer daran zu denken, daß für jeden Tag, den er hier war, Herr Stilling viele Jahre gespart und sich vieles hatte entgehen lassen, was er niemals wiederbekommen würde.
Nur zweimal in diesem ersten Jahr erwies es sich, daß mit dem stillen Leben allein nicht alles bezwungen werden konnte.
Das erstemal war es der Bäckerjunge, der ihn am ersten Morgen angesprochen hatte. Jons wußte nun längst, was ein »Singbüdel« war und daß damit keine Liebkosung ausgesprochen wurde, und es erbitterte ihn, daß ein fremder Mensch, und anscheinend keiner von den besten, seinen Spott mit ihm treiben sollte, als sei er ein Betrunkener oder ein Hergelaufener, den die Hunde anbellen durften. Er überlegte lange, und auch in solchen Dingen gingen seine Gedanken langsam und schwerfällig. Dann beschloß er es an einem Abend, schlief ruhig wie sonst, und am nächsten Morgen, als die schlottrige graue Gestalt mit dem üblichen Gruß an ihm vorüberschlich, ließ er seine Bücher plötzlich aus der linken Hand fallen, ergriff den Feind mit »Untergriff«, wie er es gelernt hatte, hob ihn auf und schleuderte ihn so auf das Pflaster, daß der Besiegte noch dalag, als er schon längst seine Bücher wieder aufgenommen und seinen Weg fortgesetzt hatte, mit stillem, etwas blassem Gesicht, während seine Absätze wie immer laut und regelmäßig auf das Pflaster schlugen.
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