Brot und Trost von einer höheren Art gab es nur für die Gläubigen, und sie bedurften keines Pfarrers, um es zu empfangen. Sie waren in der Gnade, und die Gnade bedarf keines menschlichen Mittlers. Aber alle die anderen, die in der Welt lebten und nicht unter den Sternen, brauchten zuerst ein Brot und ein Kleid. Und es war nicht gut, wenn man mit leeren Händen kam – und einmal mußte man mit leeren Händen kommen –, sie hinter einem Traum zu verstecken, einem Versprechen, das so leicht zu geben und so unmöglich zu prüfen war, einen Wechsel auf eine bessere Welt, der so leicht zu unterschreiben war und von dem niemand wußte, ob er jemals eingelöst werden würde. Und wer war nicht ein Betrüger, der solchen Wechsel schrieb, außer wenn ihm das Jenseits so wirklich war wie die Stube, in der er bei den Hungernden saß, das Herdfeuer, an dem er seine Hände wärmte? Half es denn, zu denken, daß, wenn es eine große Täuschung war, niemand gegen ihn würde aufstehen können, weil sie alle Erde auf den Augenlidern tragen und zu Staub zerfallen würden? Daß niemals ein Kläger und niemals ein Richter sein würde? Daß man täuschen konnte, wie ein Erwachsener Kinder täuscht, und nachher zieht er sich zurück in seine Welt und lächelt, weil Kinder vergessen oder warten, mit einer engelhaften Geduld warten, und mit einer neuen Täuschung still gemacht werden?
Nein, das Wort war die Sünde, das Wort, das man über die Tat schob und Glauben nannte. Der Glaube verlangte keine Tat, keinen Augenschein, keinen Beweis. Er ließ sich genügen. Er tröstete sich damit, daß auch andere glaubten, daß es geschrieben stand, daß es verkündet wurde. Die Diener der Liebe hungerten nicht. Es war ihnen nicht befohlen, Brot zu reichen, das sie sich am Munde absparten, das sie stehlen gingen, wenn es not getan hätte. Es war ihnen nur befohlen, das Wort vom Brot zu reichen, den Schein des Brotes, und zu sagen, daß das Wort vom Brot mehr sei als das Brot. Ein höheres Brot gleichsam, ein geistigeres, nicht für den irdischen Leib bestimmt, den Leib, aus der Erde gemacht, sondern für den andern Teil, der einmal auferstehen würde, ohne Brot, ohne Kleid, ohne Hunger, ohne Durst.
Nein, er fühlte, daß irgend etwas nicht richtig war. Er fühlte es, weil er nicht die Augen schloß und betete, sondern sie weit öffnete, so weit, daß es schmerzte, und nachdachte. Elend und Jammer waren immer auf der Welt gewesen, damals vor zweitausend Jahren wahrscheinlich nicht mehr und nicht weniger als heute, und auch Christus hatte gesehen, daß er Elend und Jammer nicht fortnehmen konnte aus der Welt. Er hatte es gewollt. Er hätte tausendmal am Kreuz gehangen, wenn er es gekonnt hätte, denn er weinte um die Armen. Aber er hatte es nicht gekonnt. Gottes Sohn hatte es nicht gekonnt. Und so war ihm nur eines geblieben für die Armen: das Wort. Das Wort vom Paradies, wo man alle Tränen trocknen würde, das Wort vom Gericht, wo man alles Unrecht strafen würde. Dort würde sein, was auf Erden nicht war und was die Armen mit Leidenschaft erflehten: Speise und Gerechtigkeit. Wenn man erreichte, daß sie glaubten, dies und nichts anderes, dann konnte es sein, daß der Mensch seinen düsteren Weg bis zum Tode ausschritt, ohne der Schöpfung zu fluchen oder sie zu verlassen, ja, daß man ihn fröhlich ausschritt, wie ein Eingekerkerter, an dessen Wand man klopfte und dem man leise durch die Fugen der Mauer zuflüstert, daß morgen die Riegel springen und die Kerkerknechte gerichtet würden.
Deshalb hieß es: »Im Anfang war das Wort.« Es war der Tropfen, der in den ungeheuren Becher der Schmerzen fiel und sie süß machte. Und wer aus ihm trank, konnte dann auch glauben, daß es besser sei, zu leiden und nur zu leiden. Denn wer am meisten litt, würde am meisten belohnt. Das war die Erlösung. Es gab andere Erlösungen, man konnte sie wenigstens denken. Aber man konnte sie nicht tun. Die Tat war nicht frei. Alle Mächte der Erde konnten gegen sie aufstehen, die Kaiser, die Heere, die Richter, die Gewalt. Aber das Wort war frei. Es gab keinen Beweis, daß es täuschte. Niemand war zurückgekommen und hatte gesagt, es gebe kein Paradies. Gegen den Glauben konnte nur der Unglaube aufstehen, der Zweifel, ein anderes Wort. So stand nicht Gewalt gegen das Wort, sondern nur ein anderes Wort. Und immer siegte das süße Wort über das bittere.
So weit war der Pfarrer nun. Er sah alle Fäden entwirrt und zurücklaufen bis zum Anfang. Wo das Leid begann, begann auch das Wort und seine Täuschung. Es gab keine Religion, in der es anders gewesen wäre. Das Furchtbare der Schöpfung war nur zu rechtfertigen, wenn man eine unsichtbare Weisheit hineinlegte und verkündete, daß sie einmal sichtbar sein würde: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie werden getröstet werden! Aber wo waren die Eltern, die zu ihren unmündigen Kindern sprachen: »Seid selig, daß ihr leidet«? Wo war die Frau von Sowirog, die das Brot in den Kasten zurücklegte und zu dem fragenden Kinde sagte: »Sei selig, daß du hungerst, denn im Paradiese wirst du satt werden«? Wo war die Mutter, die zu Christean sagte: »Sei selig, daß du auf Krücken gehen mußt, denn im Paradiese wirst du tanzen«?
O nein, es gab Eltern, die barmherziger waren als der Gott der Liebe. Barmherziger als auch ihre Pfarrer. Nicht daß die Pfarrer nicht getreue Diener gewesen wären. Sie reichten weiter, was ihnen gereicht worden war: das Wort. Und viele von ihnen glaubten, daß das Wort Speise sei. Sie standen an Särgen, in denen ein unendlicher Jammer begraben lag, und sagten: »Freut euch des Jammers, denn er ist seines Lohnes gewiß!« Sie fragten nicht, ob es nicht auch ohne Jammer einen Lohn gegeben hätte. Es war nicht gut zu fragen, seit Christus am Kreuz gefragt hatte, weshalb Gott ihn verlassen habe.
Aber viele von ihnen mochte es geben, die nun daheim zwischen ihren Büchern standen und die Hände rangen. Die nicht nur dies, sondern alles fragten, was ein Menschenmund fragen kann. Verstörte und entsetzte Fragen, und die schließlich mit verwirrten Augen vor sich hinflüsterten, oder es in den stillen Raum hinausschrien: »Ich glaube! Ich glaube doch! Lieber Gott, glaube ich denn nicht?« »Ja, sei still, arme Seele«, sagten sie dann leise, »ich glaube ja. Ich glaube wenigstens, daß ich glaube. Laß es nun gut sein, arme Seele.«
Auch der Pfarrer Agricola sagte es manchmal. Wenn er so müde war, daß er wie ein Kind im Traume sprach. Aber er ahnte, daß er es einmal nicht mehr sagen würde. Daß er zu rechtschaffen war, um es immer wieder zu sagen, und daß die Zeit für ihn kommen würde, in der das Wort auf seinen Tisch geschleudert werden würde: ›Ich will ihm zeigen, wieviel er leiden muß um meines Namens willen.‹ Aber was er dann sagen würde statt des »Laß es nun gut sein, arme Seele«, das wußte er nicht.
Und nun saß der Kätner und Waldarbeiter Gogun vor ihm, ein bißchen ein Trinker, ein bißchen ein Dieb und ein bißchen ein frommer Mann, drehte die Mütze zwischen seinen Händen und sagte, daß sie nun anfangen könnten, eine Kirche zu bauen. Das Holz sei da, die Steine seien da, und für das andere brauche er nur eine Bescheinigung von des Herrn Pfarrers Hand, daß er ein bißchen umherwandern und sammeln könne.
Aber woher das alles sei, fragte Agricola schließlich verwirrt.
Die Nonne, sagte Gogun lächelnd. Die Nonne und gute Menschen und die Sägewerke, die nicht wüßten, wohin mit dem Holz. Da brauche der Herr Pfarrer sich keine Sorgen zu machen. Und auch nicht wegen der Arbeiter. Jetzt wüßten es erst vier, aber bald werde das ganze Dorf es wissen, und das Dorf werde die Kirche bauen, ganz allein, denn soviel Verstand und Geschicklichkeit sei auch in dem ärmsten Dorf, wenn es um Gottes Haus gehe. Und vielleicht – das sagte er nur so –, vielleicht werde der Herr Pfarrer in das arme Dorf ziehen, zu Jeromins etwa oder zum Schulzen, da er doch jetzt allein sei, und bei ihnen bleiben, ein kleiner Pfarrer nur, was die Gemeinde betreffe, aber mitten unter ihnen, und sie würden um ihn stehen wie eine Mauer gegen den bösen Feind.
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