Dabei sind unsere Lebensentwürfe in den vergangenen Jahren weit auseinandergegangen. Matze reist als Sportler um die Welt. Ich bin in Westfalen geblieben, sogar wieder zurück nach Goxel gezogen und habe drei Kinder. An unserem Verhältnis hat all das nichts geändert. Wann immer Matze in seiner Zeit in Köln oder Esslingen hierhergekommen ist, hat er sich gemeldet. Er ist einer der wenigen aus unserer großen Clique, die weggezogen sind, doch wenn er kam, ließen die meisten alles stehen und liegen. Selbst wenn er sich spontan auf den Weg in die Heimat machte und erst auf der Fahrt rundschrieb, kam noch am selben Abend ein großer Teil der Clique wieder zusammen. Und dann war es so, als hätten wir uns gestern das letzte Mal gesehen. Umgekehrt lässt auch Matze vieles stehen und liegen, wenn es bei einem von uns einen wichtigen Anlass gibt. So machte er zwischen zwei Trainingslagern eine Pause, um bei meiner Hochzeit dabei sein zu können.
Dass ich einen Gastbeitrag in seinem Buch schreiben darf, ist eine große Ehre für mich. Klar, Matze und ich waren beste Freunde in Teenager-Zeiten. Aber auch Teil einer großen Clique von 12 bis 14 Jungs. Wir waren allerdings weit mehr als Fußball- und Party-Kumpels. Wir haben uns auch oft sehr privat unterhalten, über Gefühle und Emotionen gesprochen, uns gegenseitig vieles anvertraut. Über die Schule, Eltern, Mädels und das Leben als solches. Sein Kleinwuchs war eher selten Thema. Doch wenn, dann ein intensives und wichtiges. Denn als Freund hat es mich gefordert, wenn er einmal traurig war.
Das passierte allerdings ausgesprochen selten. Denn was mich an Matze immer schon fasziniert hat: Er ist nahezu grenzenlos positiv. Ihn plagen kaum schlechte Gedanken. Und wenn wer anders solche hat, kommt Matze und macht den Tag wieder hell. Er ist ein bodenständiger Typ, steht felsenfest im Leben und sieht immer eher die Chance als das Risiko.
Das galt auch für den Fußball. Er dachte nie darüber nach, was er eventuell nicht schaffen könnte, wie alt, wie groß, wie schwer oder wie stark der Gegner war. Er steckte sich einfach das viel zu große Trikot in die Hose, stapfte auf den Platz und spielte. Und er war richtig gut. Wäre er nicht kleinwüchsig gewesen, hätte richtig was aus ihm werden können. Matze war sicher der beste Fußballer von uns allen in unserer Thekenmannschaft „Goxeler Dream-Team“. Mit Abstand. Die körperlichen Nachteile konnte er natürlich nicht immer ausgleichen, doch wenn er den Ball am Fuß hatte, war er kaum davon zu trennen. Und er hatte einen unglaublich festen und platzierten Schuss. Vor allem in der Halle, wo die körperlichen Nachteile nicht so hervortraten, war er eine echte Waffe. An diese Zeit auf den Bolzplätzen und in den Sporthallen erinnere ich mich noch unheimlich gerne zurück. Seit zwei Knie-Operationen vor mehr als zehn Jahren ist klar, dass ich nie wieder Fußball spielen werde. Aber diese wunderschöne Zeit nimmt mir niemand.
Für uns alle war Matze nie so etwas wie ein Klotz am Bein. Ganz im Gegenteil. Matze war für jeden Einzelnen wie für die gesamte Clique eine Bereicherung. Jemanden wie Matze kannst du mit Geld nicht bezahlen. Es gab in der Clique, wie in jeder anderen auch, unterschiedliche Charaktere. Manche waren eher melancholisch, andere launisch, doch wenn Matze in der Nähe war, hatten immer alle gute Laane.
Am Anfang, als er zu uns stieß, waren wir natürlich alle zunächst etwas abwartend und vorsichtig gewesen. Dass wir ihn mochten, war klar. Doch wir stellten uns die Fragen: Was kann er, was kann er nicht? Worauf müssen wir Rücksicht nehmen? Dürfen wir bestimmte Dinge nicht sagen oder nicht tun, weil er sie nicht kann? Ist er ein Streitfaktor, weil er überreagiert, wenn ihn jemand Fremdes blöd anschaut? Doch keine dieser Befürchtungen erwies sich als berechtigt. Zumal die Menschen, die Matze angafften, höchstens aus Neugier handelten, aber nie feindselig waren. Und so fiel es Matze und uns allen irgendwann leicht, dies einfach zu ignorieren.
Auch die Pubertät traf Matze nicht so schlimm wie andere. Er war zwar damals nicht so selbstbewusst wie heute, bei weitem nicht. Er war zurückhaltender, beobachtete vieles erst mal. Aber von schlechter Laune war er weit entfernt. Und er machte auch damals schon viele Witze über sich selbst. Machten andere Witze über ihn, prüfte er erst einmal, wie diese gemeint waren. Waren sie böse, nahm er sich das schon zu Herzen oder reagierte wütend. Heute lacht er über gute Witze. Und bei schlechten oder gemeinen dreht er sich einfach um und geht weg.
Ein wichtiges Thema in unseren Gesprächen – und da war er dann doch ganz der normale Teenager – waren die Frauen. Es war eine schwere Situation für ihn. Denn die Mädels standen auf ihn, in gewisser Hinsicht war er der Frauentyp schlechthin in unserer Clique. Alle mochten ihn, alle fanden ihn süß, alle suchten seine Nähe, er war ein sehr beliebter Gesprächspartner. Doch wenn es darum ging, mit einem zu gehen, entschieden sich die meisten lieber für andere Jungs. Für normal Große eben. Bewundernswert war, wie wenig sich Matze davon einschüchtern oder gar unterkriegen ließ. Er ist immer auf die Frauen zugegangen, hat sie angesprochen, hat mit ihnen getanzt und hat immer alles gegeben. Und wenn er eine Abfuhr bekommen hat, hat er nie den Kopf in den Sand gesteckt. Auch da half ihm seine positive Lebenseinstellung. Und das Wissen, dass die Abfuhren selten bis nie mit seiner Persönlichkeit zu tun hatten.
Ich denke, dass sich das heute schon etwas gebessert hat – und ich bin vor allem sicher, dass die Zeit weiter für Matze spielt. Für 16-jährige Mädchen war seine Größe sicher eher ein Problem als für 26-Jährige. Und 36-Jährige werden sich noch weniger daran stören, sondern viel mehr auf das Wesen achten.
Und da kann ich garantieren: Mit niemandem kann man so viel Spaß haben wie mit Matze. Auf meiner Hochzeit hatte er den ganzen Saal im Griff, aber er wird bei so etwas nie peinlich. Er kennt immer seine Grenzen, sowohl in Bezug auf Sprüche und Lautstärke als auch in Bezug auf seinen Alkoholpegel. Er kann für einen solch kleinen Mann unheimlich viel und unheimlich schnell trinken. Aber ich habe ihn in meinem ganzen Leben noch nie ausfallend gesehen. Ich habe auch nie erlebt, dass er abgestürzt wäre. Und aggressiv war er schon gleich gar nie.
Für einen kleinen Tick ist das Partybiest Matze Mester aber heute noch in Coesfeld und im ganzen Umkreis bekannt. Als wir 18 oder 19 waren, lief das Lied „Call On Me“ von Eric Prydz überall rauf und runter und Matze liebte diesen Song über alles. Sobald er die ersten Noten davon hörte – völlig egal, ob es in einem Partykeller war, auf einem Dorffest oder in irgendeiner Disco –, stürmte er sofort auf die Tanzfläche, zog sein T-Shirt aus und schleuderte es wie einen Helikopter über seinem Kopf. Das konnte er einfach nicht sein lassen. Es ging einfach mit ihm durch. Und die Reaktion der Menschen, die ihn nicht kannten, war immer dieselbe: Zuerst schauten sie reserviert, eine Mischung aus schockiert und beschämt. Nach spätestens einer Minute zogen die ersten wildfremden Menschen nach, stürmten auf die Tanzfläche, zogen ihr T-Shirt aus und wirbelten es über den Kopf. Und noch bevor das Lied zu Ende war, war die ganze Tanzfläche voller nackter Jungs mit einem T-Shirt-Helikopter über dem Kopf.
Matze hat damals, obwohl er einfach nur das tat, was ihm in den Kopf schoss und worauf er Lust hatte, einen richtigen Kult geprägt, der bis heute überlebt hat. Auch das zeigt, wie mitreißend er ist. Die Menschen folgen ihm. Selbst in Dingen, die sie am Anfang noch etwas seltsam finden mögen. Der Hype um sein „Call On Me“-Ritual führte schließlich sogar dazu, dass wir unsere Hobby-Mannschaft umbenannten. Aus dem „Goxeler Dream-Team“ wurde das „Team OKF“ – Ober-Körper frei. Und jeder wusste, was gemeint ist.
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