Als ich mich nun näher damit beschäftigt habe, ist mir aufgefallen, wie verwirrend die Definition von Kleinwuchs ist. Manchen Einstufungen zufolge gelten Frauen unter 1,50 Meter als kleinwüchsig und Männer unter 1,65 Meter. Aber Danny de Vito (1,52 Meter), Prince (1,58) oder Bernie Ecclestone (1,59) sind trotz ihrer „Größe“ augenscheinlich nicht kleinwüchsig. Nach dieser Definition würden aber sogar Bruno Mars, Nicolas Sarkozy oder Silvio Berlusconi fast zu „uns“ gehören – sie alle messen auch nur 1,65 Meter. Aber es gibt eben einen Unterschied zwischen klein gewachsen und kleinwüchsig. Dieser Unterschied sollte mich später im Sport noch beschäftigen und kräftig ärgern. Dabei ist er zum einen einfach zu erklären und zum anderen eigentlich auch ganz leicht zu erkennen. Denn Kleinwüchsige sind nicht nur ein paar Zentimeter kürzer, sie haben auch andere Proportionen. Wobei bei mir zum Beispiel der Oberkörper völlig normal ist. Wenn ich sitze, komme ich mit den Beinchen nicht bis auf den Boden. Aber wer ab der Tischkante meinen Oberkörper sieht, denkt, ich sei normal groß. Ich bin eben ein Sitzriese. Kann auch nicht jeder von sich behaupten. Nicht einmal jeder Kleinwüchsige, denn es gibt ja unterschiedliche Auswüchse. Auch ein schönes Wort in diesem Zusammenhang.
Jedenfalls führte mein Sitzriesentum auch schon zu absurden Situationen. Wenn ich zum Beispiel am Tisch sitzend irgendwem vorgestellt wurde, dann aufstand und merkte, wie mein Gegenüber mit etwas entgleisten Gesichtszügen von oben bis unten an mir herunterschaute. Meist lasse ich dann einen Spruch ab, der die Situation entkrampft. So was wie: „Die Schuhe sind super, oder?“
Was mir auch erspart blieb, sind die oft extremen O-Beine mancher Kleinwüchsiger. Ein leichtes O habe ich, aber das ist minimal. Und meine Oma ist sich sicher, dass das vom Fußball kommt. Ich kenne Kleinwüchsige, die sich in ihrer Jugend die Beine operativ begradigen lassen mussten. Andere haben sich sogar operativ vergrößern lassen. Ich hatte mich auch mal kurz darüber informiert. Aber diese Menschen waren nach der OP ein Jahr eingeschränkt, weil es Stück für Stück geschehen muss. Und da habe ich mir gesagt: Der ganze Aufwand für 10 oder 15 Zentimeter? Vergiss es! Du hast eine OP, liegst ein Jahr rum und nachher ist es schlimmer als zuvor. Da hatte ich keine Lust drauf. Und wie gesagt: Ich habe unter meiner Größe nie so gelitten, dass ich nachhaltig dachte, ich müsste daran irgendwann etwas ändern.
Meine Form des Kleinwuchses heißt jedenfalls Achondroplasie. Und diese hat bestimmte Merkmale. Bei mir sind es die (leichten) O-Beine, ein Hohlkreuz, ein dicker Po, verkürzte Gliedmaßen und ein auffällig großer Kopf. Eigentlich ist mein Kopf normal groß, aber eben auch nur für normal große Menschen. In meinem Fall ist er demnach unproportional groß. Böse Zungen behaupten auch, ich habe O-Arme, doch die sehen sicher nur wegen der vielen Muskeln so aus. Fakt ist, dass mein Oberarm extrem verkürzt ist. Wodurch man dicke Muskeln einerseits schneller sieht. Sie andererseits aber auch schneller schmerzen, weil sie einfach nicht wissen, wohin.
Aber auch innerhalb derselben Behinderung gibt es noch einmal Unterschiede. Mein schon eingangs erwähnter Freund Niko Kappel zum Beispiel, der 2016 in Rio Paralympics-Gold im Kugelstoßen gewann, hat grundsätzlich dieselbe Behinderung wie ich. Aber er ist deutlich schwerer, obwohl er extrem gut austrainiert ist. Er hat einen größeren Kopf und auch einen größeren Hintern – womit ich ihn natürlich immer kräftig aufziehe. Und wenn wir zusammen Quatsch machen, sage ich immer zu ihm: „Ich fürchte, da wird man uns beide einen Kopf kürzer machen. Aber dann bin ich immer noch zwei Zentimeter größer als du.“
Wenn Sie sich jetzt fragen, woher ich den Namen meiner Behinderung wusste: Den haben mir meine Eltern in meiner Kindheit mal mitgegeben. Nachfragen hatte ich keine. Und auch im Kleinwuchstreff, den ich als Junge öfter besucht habe, wurde mir dieser Begriff direkt genannt. Aber er war für mich einfach ein Abstraktum, ein Name. Kleinwuchs hieß für mich Achondroplasie. So wie ein Baum Baum heißt, ein Hund Hund und ein Auto Auto. Es war genug Erklärung für mich und bedurfte keiner weiteren Information. Ich hätte ihn im Laufe meines Lebens vielleicht einfach googeln können, dann hätte ich die Gründe für meinen Kleinwuchs gewusst. Aber obwohl ich eigentlich ein von Grund auf neugieriger Mensch bin, hat es mich eben nie interessiert. Ob ich Angst davor hatte, etwas Schlimmes zu erfahren? Falls ja, musste das sehr tief im Unterbewusstsein sitzen, denn das Gefühl hatte ich nie. Aber googeln Sie, warum Ihre Nase etwas größer ist? Ihr Kinn etwas hervorsteht? Ihre Beine im Verhältnis zwei Zentimeter kürzer sind? Einige von Ihnen sicher. Aber viele andere sicher auch nicht.
In meinem Sport treffe ich Menschen mit Einschränkungen aller Art. Und wenn ich die Kollegen sehe, die im Rollstuhl sitzen, denen ein Bein amputiert wurde – oder gar beide – oder die blind sind, dann denke und fühle ich das gleiche, wie die meisten anderen Menschen auch: „Ich weiß nicht, ob ich das könnte!“ In jedem Fall bin ich mir sicher, dass sie es viel schwerer haben als ich. Im Leben wie im Sport. Tauschen würde ich mit keinem von ihnen wollen. Was bei mir aber dann kein Mitleid hervorruft. Weil ich weiß, dass auch die meisten meiner Sportler-Kollegen das weder wollen noch brauchen. Sie brauchen nur eines: Respekt! Respekt davor, wie sie ihren Alltag und ihren Sport meistern. Diese Menschen, die ohne Rollstuhl nichts können, geben anderen Menschen die Botschaft mit, wie fröhlich und selbstbestimmt sie ihr Leben gestalten. Während andere jammern, wenn sie sich den Fingernagel einreißen.
Bei den Paralympics habe ich mal einen Schwimmer ohne Arme und ohne Beine gesehen. Der schwamm wie ein Delfin durch das Wasser. Mit einer Selbstverständlichkeit, die mir höchste Anerkennung abrang. Man fragte sich, wie das anatomisch überhaupt möglich war. Aber er fragte sich das offenbar nicht. Er machte einfach. Sprang ins Becken und schwamm los. Das war mal ein echtes Zeichen, was man alles schaffen kann. Und diese Botschaft nehme auch ich auf. Mein Gott, du bist nur klein! Also jammer nicht rum!
Gleichwohl möchte ich mich aus der Welt der Behinderten – de facto bin ich nun mal einer – nicht demonstrativ verabschieden. Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die mit ihrem Kleinwuchs nicht so gut zurechtkommen wie ich. Die meist noch etwas kleiner sind als ich. Deren Einschränkungen dadurch etwas größer sind. Und die es auch mehr belastet, von den Mitmenschen als anders empfunden und angestarrt zu werden. Manch einer misst gerade mal 70 oder 80 Zentimeter und geht mir bis zur Brust. Der Unterschied zwischen uns ist größer als der zwischen mir und normal großen Menschen, der ja meist nur bei 30 bis 40 Zentimetern liegt. Und mit dieser Größe hat man natürlich richtig Probleme. Das Laufen fällt schwerer. Ein Stuhl reicht meist nicht, um an bestimmte Dinge heranzukommen. Weil der Stuhl wiederum so groß sein müsste, dass man als solch kleiner Mensch kaum draufklettern kann.
Dem Begriff „behindert“ begegne ich natürlich überall. Bei Organisationen, Briefwechseln, selbst mein Sportverband nennt sich „Deutscher Behindertensportverband“. Das, was ich tue, ist nicht einfach Sport, es ist Behindertensport. Es gab sogar Zeiten, da wurden wir offiziell in „Schadensklassen“ eingestuft. Was für ein furchtbarer Begriff! Zwischendurch versuchte man es dann betont gegensätzlich mit dem Begriff „Leistungsklassen“. Heute spricht man einfach nur noch von Klassen und benennt sie. Meine zum Beispiel heißt F41. Das F steht für „Field“, also für eine technische Disziplin nach der englischen Unterscheidung der Leichtathletik in „track und field“. Wobei es eine Klasse T41 bei uns nicht gibt, weil bei den Kleinwüchsigen keine Lauf- und keine Sprung-Disziplin paralympisch ist. Aber eigentlich ist doch alles ganz logisch. Warum also nicht gleich so?
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