Dennoch habe ich mich entschlossen, Ihnen von meinem Leben zu erzählen. Von den kleinen und großen Widrigkeiten. Und von den Erfolgen. Vor allem aber von dem, was ich erleben durfte. Als Mensch. Wenn Sie so wollen als „normaler Unnormaler“. Als Sportler, der Höhen und Tiefen erlebt und die Welt gesehen hat. Als Lausbub. Als Optimist.
Manche sagen, ich sei ein Vorbild. Für Kleinwüchsige, für Behinderte im Allgemeinen. Das war nie etwas, was ich angestrebt oder wonach ich gelebt habe. Spätestens als ich in der Öffentlichkeit stand, war mir aber schon bewusst, dass viele mein Handeln auf alle Kleinwüchsigen übertragen würden. Und dass daraus eine große Verantwortung entsteht. Doch ich habe mein Handeln nie danach ausgerichtet. Weil ich mich nicht verstellen will. Weil ich authentisch sein will und sein muss. Weil ich so am glücklichsten bin. Und all den rund 100.000 Kleinwüchsigen in Deutschland, quasi als Nebeneffekt, so auch am meisten nutze.
Kindermund – Mein Leben als wandelndes Fragezeichen
„Mama, schau mal, da ist David, der Kabauter.“ „Mama, Mama, guck mal, das Kind da hat einen Bart!“ Es war lange Zeit schon gewöhnungsbedürftig für mich, das gebe ich offen zu, wenn Kinder hinter mir in Zimmerlautstärke über mich sprechen. Und das passiert ständig. Immer, mehrfach am Tag. Kinder tragen ihr Herz auf der Zunge. Und sie haben tausend Fragen. Und ich laufe in ihren Augen als wandelndes Fragezeichen durch die Welt. 99 Prozent der Kinder reagieren auf mich. Manche schauen nur, staunen, rätseln. Einmal ist ein Kind sogar mit dem Roller gestürzt, weil es mir so entgeistert nachgeschaut hat. Vor allem aber stellen die allermeisten Kinder Fragen. Ganz ungeniert. Aber nicht an mich. Sondern an ihre Eltern.
Als ich selbst noch ein Kind oder ein Jugendlicher war – die Formulierung „als ich klein war“ wäre bei mir etwas bizarr –, gab es solche Situationen nur vereinzelt. Wir waren alle Kinder, der eine etwas größer, der andere etwas kleiner. Und auch wenn man mir aufgrund der anderen Merkmale deutlich ansieht, dass ich kleiner bin, war es damals vielleicht nicht ganz so augenscheinlich. Nicht in einer Sekunde zu erfassen, wie es das später werden würde. Doch irgendwann war den Kindern klar, dass ich deutlich älter, aber nur unwesentlich größer bin als sie.
„Mama, schau mal, der kleine Mann da“, das höre ich jeden Tag. Oder auch: „Papa, schau mal, da läuft ein Zwerg.“ Am häufigsten höre ich die einfache Frage: „Warum ist der Mann da so klein?“ Die Reaktionen der Mütter und Väter sind dabei extrem unterschiedlich. Manche sind mit der Situation überfordert und verbieten ihrem Kind in panischer Hektik den Mund. „Schhht“, sagen sie und drücken ihnen den Zeigefinger auf die Lippen. Ich weiß nicht, ob sie wirklich glauben, dass ich das nicht mitbekomme. Und ob sie sich darüber Gedanken machen, dass nun sie es waren – und nicht ihr Kind –, die mir das Gefühl gegeben haben, nicht normal zu sein. Und dass sie vor allem ihrem Kind das Gefühl geben, diese armen, kleinen Menschen bloß nicht hören zu lassen, dass man sich fragt, warum sie klein sind. Manche lügen ihre Kinder auch einfach an: „Das ist kein kleiner Mann“, sagen sie: „Das ist ein Kind, das sieht nur älter aus.“ Und wenn die Kinder dann sagen: „Kein Kind hat einen Bart“, ziehen sie sie weg und sagen so was wie: „Schluss jetzt, Ende der Diskussion.“
Die meisten Eltern antworten gut, indem sie es als die normalste und einfachste Sache der Welt behandeln. „Das ist eben so“, sagen sie dann: „Es gibt große Menschen und kleine, dicke und dünne, alte und junge.“ Wenn sie merken, dass ich es mitbekommen, folgt oft ein fragender Blick zu mir herüber. Er will heißen: „War das okay so?“ Ich nicke dann kurz und freundlich und gehe weiter.
Sehr gut gefallen mir die Eltern, die antworten: „Ich weiß es nicht. Frag den Mann doch einfach selbst.“ Sie ziehen mich damit zwar in die Sache hinein, aber es ist mir lieber, wenn ich den Kindern Quatsch erzählen darf, als wenn sie es tun. Unter den Kindern dieser Eltern gibt es dann drei verschiedene Typen. Die einen klammern sich sofort an Mamis Bein, verstecken sich dahinter und genieren sich. Sie spreche ich dann manchmal von mir aus an, um ihnen zu zeigen: Vor mir braucht man keine Angst zu haben. Die zweite Gruppe Kinder, die meisten davon im Grundschulalter, überfällt mich derweil arg ungestüm und fragt mit einem herablassenden Unterton: „Ey du, warum bist du denn so klein?“ Auf solche neunmalklugen Naseweise habe ich keine Lust, und so antworte ich ihnen meist: „Was willst du denn? Ich bin doch größer als du.“ Meist reicht das schon, um sie abzuwimmeln.
Am liebsten sind mir natürlich die Kinder, die leicht scheu, aber doch neugierig, lieb und offen auf mich zukommen und mich in einem netten Ton und vorsichtig fragen. Für sie würde ich mir immer Zeit nehmen, und wenn es hundert an einem Tag wären. Meine liebste Antwort an sie ist aber dennoch eine lustige. Denn mit einem „Das ist halt so“ sind Kinder nicht zufriedenzustellen. Und biologische Erklärungen führen in dem Alter auch zu wenig – zumal ich nicht der Typ dafür wäre, diese liefern zu können. Also sage ich: „Das liegt daran, dass ich, als ich so alt war wie du, meinen Teller nicht immer leer gegessen habe.“ In diesem Moment schaue ich dann fragend zu den Eltern („Okay so?“) und ernte meist ein freudiges Lächeln oder einen in die Luft gereckten Daumen. Sie freuen sich in diesem Moment diebisch darüber, dass ihr Kind künftig wohl sogar den ungeliebten Spinat und den ekligen Rosenkohl bis auf den letzten Rest aufessen wird.
Natürlich sind nicht alle Kinder mit solch einer Antwort zu beruhigen. Einige glauben mir nicht, und daran ändert dann auch der kurzzeitige Schock über diese unerwartete Antwort nichts. „Quatsch“, sagen sie dann oft bockig: „Stimmt ja gar nicht.“ Ein Mädchen, es mag wohl so sieben gewesen sein, schrie mich sogar an. „Du lügst“, dann schlug sie mit dem rechten Arm wütend in die Luft, presste ihre Puppe mit dem linken an sich und spazierte mit dem festen Schritt eines Armeesoldaten von dannen.
Wie gesagt, im Großen und Ganzen komme ich mit diesen Situationen gut klar. Manchmal nerven sie, manchmal habe ich keinen Kopf dafür oder es wird mir einfach zu viel. Aber meistens habe ich Freude daran, mit den neugierigen Kindern zu kommunizieren.
Richtig schlimm finde ich das Getratsche und Getuschel in meinem Rücken aber auch heute noch bei einem ersten Date. Wenn ich eine Frau, vielleicht mit Mühe und Not, dazu überredet habe, mit mir auszugehen, droht diese Fragerei im Rücken alles kaputtzumachen. Und wenn ich das Glück hatte, dass für eine Frau das Problem meiner Größe zunächst keines war, dann wird sie in diesem Moment daran erinnert, dass es eben doch eines sein könnte.
Es ist nicht angenehm, wenn du mit einer Frau, die du für dich gewinnen willst, durch die Stadt läufst und plötzlich spürst du: Die Kinder hinter dir gaffen dich an, stellen ihren Eltern die altbekannten Fragen. In diesem Fall ergänzt durch die Variante: „Was macht die große Frau mit dem kleinen Mann?“ Du wolltest der Frau beweisen, dass alles kein Problem ist. Und plötzlich befindet ihr euch in dieser Ausnahmesituation. Und ich weiß: Sie bekommt das mit, so wie ich es mitbekomme. Dann befällt mich schlagartig der panische Gedanke: Wird sie das vergraulen? Wie wird sie damit umgehen, dass sie in dieser Sekunde darüber nachdenken muss, dass es so wohl immer sein wird, wenn sie mit mir durch die Stadt läuft? Wird sie es genauso gut ignorieren und in Teilen sogar lieb gewinnen können wie ich? Und wenn ja: Wie lange wird dies dauern?
Auch diese Angst habe ich im Laufe der Jahre in den Griff bekommen. Besser sie werden gleich damit konfrontiert, denke ich mir dann. Ganz frei machen von diesem Unwohlsein kann ich mich aber nicht. Denn du spürst: Hier passiert gerade etwas, hier beginnt etwas zu arbeiten in der Frau. Und es ist etwas, worauf du keinen Einfluss hast. Und spätestens, wenn ich dann spüre, dass ihre Stimmung kippt, dann kippt auch meine: Dann verfluche ich plötzlich diese kleinen Monster, die mir sonst mit ihrer Neugier und ihrer Offenheit doch so oft ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
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