In Goxel, meinem 800 Einwohner zählenden Heimatdorf, war ich nicht nur der einzige Kleinwüchsige, sondern auch der einzige Behinderte. Ich hätte jetzt, um das Wort zu vermeiden, eigentlich sagen wollen, der Einzige, der komplett anders war als die „Normalen“. Doch das hätte wiederum nicht gestimmt. Jedenfalls klingt diese Ausgangslage nach Problemen, nach Außenseitertum, nach Hänseleien und vielem mehr. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Kinder eines Alters hingen auf dem Dorf immer zusammen rum. Und Kinder kennen noch keine Barriere. Bis wir in das Alter kamen, in dem man sich über so etwas Gedanken macht, war ich längst voll geachtetes und normales Mitglied unserer Clique.
Übermäßige Hänseleien oder sogar Mobbing musste ich nicht ertragen. Kinder sind zwar gemein, aber sie stürzen sich auf alles und jeden und suchen dessen Schwachstelle und beleidigen sich immer über das Offensichtliche. Der Dicke ist ein „Fettsack“, der Dünne eine „Bohnenstange“, der Große ein „Langes Elend“, der Kleine ein „Zwerg“. Man wird für seine Frisur gehänselt, seine Klamotten oder sonst irgendwas. Irgendeine Art von Behinderung hat ja jeder. Und sei es eine Vorstufe. Sechs Dioptrien auf einem Auge, eine überdimensional große Nase, was weiß ich. Bei mir hieß es dann eben: „Ey, du Zwerg“, wenn mich einer ärgern wollte. Aber darauf konnte ich mich einstellen. Mitschüler, die in der Pubertät Akne bekamen und plötzlich als „Pickelfresse“ oder „Streuselkuchen“ verunglimpft wurden, hatten es da wahrscheinlich schwerer. Und bei mir kamen die Sprüche in dieser Zeit wirklich verdammt selten. Wahrscheinlich, weil die anderen schnell den Eindruck bekamen, dass sie mich damit nicht ärgern konnten. Denn selbst, wenn sie mich genervt haben, schluckte ich meinen Ärger runter und reagierte nicht groß.
Aber tief in mir drin ließ es mich natürlich nicht komplett unberührt. Fast alle anderen hatten die Möglichkeit, sich zu überlegen: Ärgert mich das alles so sehr, dass ich etwas ändere? Oder stehe ich bewusst drüber? Wer zu dick war, konnte abnehmen. Wer eine zu dicke Brille hatte, konnte auf Kontaktlinsen umsteigen. Wer rote Haare hatte, konnte sie färben. Abstehende Ohren konnte man anlegen lassen. Ich konnte nicht wachsen. Ich konnte mich nicht entscheiden, das einfach zu ändern. Irgendwann drehte sich dieser Gedanke aber komplett. Irgendwann nahm ich das „Ich kann es ja nicht ändern“ nicht mehr als Belastung hin. Es war die Begründung, sich nicht mit solchen Dingen zu beschäftigen.
Was kurios war und ich erst im Rückblick so richtig registrierte: Ich hatte immer einen Beschützer. Egal, ob im Kindergarten, in der Grundschule oder später auf der weiterführenden Schule, es war immer jemand da, der auf mich aufpasste. Mein Helfer, mein Bodyguard. Im Kindergarten bestand die Hilfe eher darin, mir mal die Jacke auf- oder abzuhängen. Später sind meine Beschützer dazwischengegangen, wenn es doch einmal jemand wagte, mir einen blöden Spruch wegen meiner Größe zu drücken. Meist sprangen sie mir verbal zur Seite. In seltenen Fällen drohten sie denjenigen auch Dresche an. In manchen Zeiten habe ich mich gefühlt wie ein Banden-Boss, wie ein Ober-Mafioso. Zum einen hatte ich immer meinen eigenen Bodyguard dabei, zum anderen habe ich als Typ doch auch gerne mal den Ton angegeben. Ich glaube auch, dass es diese Mischung aus Mitleid und Respekt vor mir als Anführer-Persönlichkeit war, die in dem ein oder anderen den Instinkt geweckt hat, mein Beschützer sein zu müssen und zu wollen. Hätte ich damals gesagt: „Der mit der schwarzen Jacke und den Pickeln da drüben hat mich blöd angeschaut. Erteilt dem mal eine Lektion“, wären sie losgezogen und hätten ihn vermöbelt. In der Grundschule ist es dann auch das eine oder andere Mal vorgekommen, dass jemand, der mich beleidigt hatte, danach Ärger mit meinen Freunden bekam. Die handelten aber tatsächlich immer auf eigene Initiative. Einen Auftrag dazu habe ich nie erteilt. Später hat mich einer dieser Bodyguards – mein Nachbar, mit dem ich immer gemeinsam den Schulweg gegangen bin – vor einer Schlägerei bewahrt. Ich wollte gerade aus dem Bus aussteigen, als mir ein Mitschüler einen fiesen Spruch drückte. Ich habe natürlich entsprechend reagiert, er wollte sich auf mich stürzen und mein Nachbar ging dazwischen.
Im Endeffekt hatte ich während meiner gesamten Schulzeit nur eine einzige Schlägerei. Ansonsten hat mich mein friedliches Gemüt davor bewahrt, in den Kampf zu ziehen. Ich hatte einfach kein Interesse daran. Ich habe mich verbal gegen Beleidigungen gewehrt, aber ich war nicht aggressiv oder gar streitlustig. Und es hat sich vielleicht auch niemand so richtig an mich rangetraut. Weil sie sicher Respekt vor meiner Stärke hatten. Die hatte sich in der Schule schnell rumgesprochen, und ich tat im Sportunterricht auch einiges dafür, sie unter Beweis zu stellen. In letzter Konsequenz traute sich aber sicher auch deswegen keiner an mich heran, weil du bei einer solchen Nummer nur verlieren kannst. Vermöbelst du den armen Kleinwüchsigen, bist du ein Arsch. Verlierst du gegen den Kleinen, bist du die Lachnummer der ganzen Schule.
Eigentlich hatte ich deshalb nicht das Gefühl, einen Beschützer zu brauchen. Angenommen habe ich das aber doch immer sehr gerne. Es hat sich ja auch gut angefühlt. Thematisiert hat diese Rollenverteilung nie jemand. Es hat auch nie jemand theatralisch angekündigt: „Matze, ich passe ab heute auf dich auf!“ Es hatte sich immer einfach ergeben. Und ich habe es dann so hingenommen und belassen.
Im Rückblick war ich wohl immer auch einer der Klassen-Clowns, auch wenn ich das selbst damals nie so empfunden habe. Das Problem war: Ich konnte immer schon gut austeilen, weil mir immer lockere Sprüche in den Kopf geschossen sind und ich sie einfach rausgehauen habe. Im Gegenzug konnte ich am Anfang gar nicht gut einstecken. Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass mir jemand auch mal fiese Sprüche drückte. Drüberzustehen, ohne alles persönlich zu nehmen. Aber Übung macht den Meister, inzwischen bin ich darin ein echter Profi.
Nur ein einziges Mal habe ich mich in der Schulzeit handgreiflich gewehrt. Ein deutlich größerer Typ mit raspelkurzen Haaren, gut anderthalb Köpfe größer als ich, hatte mich in der Turnhalle so sehr aufgezogen, dass mir die Nerven durchgegangen sind. Ich habe ihm zuerst in den Magen geboxt und dann, als er sich gebückt hat, rammte ich ihm mein Knie an die Nase. Er hat sich nicht einmal gewehrt. Und ich hatte nachher ein ganz schlechtes Gewissen – obwohl er es verdient hatte. Auch wenn ich heute nicht mehr weiß, worum es ging.
Als ich 19 war, geriet ich dann doch einmal in eine Schlägerei. Allerdings in eine ziemlich kuriose. Denn mit meinem Kleinwuchs und etwaigen Sprüchen oder Hänseleien hatte es damals nicht im Geringsten etwas zu tun. Ich war mit zwei Freunden unterwegs, einer von ihnen wurde provoziert und ging den Pöbler an. Also habe ich – zunächst zögernd und etwas widerwillig, aber doch im vollen Einsatz für meinen Kumpel – mitgemacht, um ihm zu helfen. Das Blöde dabei war: Irgendwann hatte sich ein kleiner Knäuel aus Jungs gebildet und ich wuselte natürlich unten rum. Mein Kumpel schlug dann mehrfach drauf – und traf jedes Mal mich, weil er mich nicht sah. Als wir später gemeinsam im Taxi saßen, brüstete er sich: „Dem hab ich’s aber gezeigt. Hast du das gesehen?“ Und er hat sich dann auch tatsächlich sehr geschämt, als ich antwortete: „Von wegen. Du Idiot hast mir auf den Kopf geschlagen. Immer und immer wieder.“
Fabian Thier: „Sein T-Shirt-Helikopter ist Kult“
Matze und ich kennen uns schon länger als unser halbes Leben. Und genauso lange sind wir schon befreundet. Ich habe in der Vorbereitung auf diese Zeilen überlegt, wo ich diesen Typen eigentlich aufgegabelt habe. Wann und zu welchem Anlass er in mein Leben trat. Ich weiß es nicht mehr. Er war irgendwann einfach da. Wir dürften elf oder zwölf gewesen sein. Wir sahen uns, wir mochten uns – und waren fortan befreundet. Und wir sind es immer noch.
Читать дальше