© 2021, Septime Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag und Satz: Jürgen Schütz
Umschlagbild: © i-stock-ferrantraite
EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer
ISBN: ISBN: 978-3-903061-48-4
Erstmals erschienen als Hardcover
Septime Verlag, 2017
Paperback-ISBN: 978-3-99120-007-9
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Ute Cohen
(geb. 1966) studierte Linguistik und Geschichte in Erlangen und Florenz. Berufliche Stationen in amerikanischen Unternehmensberatungen in Düsseldorf und Frankfurt und einer internationalen Organisation in Paris folgten. Freiberuflich konzentrierte sie sich ab 2003 auf Konzeptentwicklung, Kundenkommunikation und Journalismus. Bei Septime erschienen bisher die Romane Satans Spielfeld und Poor Dogs.
Ute Cohen lebt heute mit ihrer Familie in Berlin.
Klappentext
Die zwölfjährige Marie wächst in den Siebzigerjahren auf dem bayerischen Land auf. Bäuerliche Rohheit und dumpfe Obrigkeitshörigkeit prägen die Dorfgemeinschaft. Die Eltern, gefangen in einer zerrütteten Ehe und belastet mit Geldsorgen, sehen in der Tochter die Erlöserin aus dem eigenen Elend. Kleinbürgerliche Enge und der Druck des Elternhauses lassen das empfindsame, begabte Kind Zuflucht im Katholizismus und in Tagträumen finden.
Als Marie eines Tages Sabine und Nicole, die Töchter des schillernden Architekten Fred Bauleitner, kennenlernt, bricht ihre Einsamkeit auf. Ungezwungenheit und Sorglosigkeit locken Marie aus ihrem Kokon. Sie befreit sich von der elterlichen Schwere, entdeckt eine Welt, die moralinsaure Beschränkung gegen freigeistige Leichtigkeit tauscht. Marie riecht, schmeckt, genießt eine dunkel geahnte pubertäre Erregtheit. Der Vater ihrer Freundinnen, getrieben von den eigenen Schatten, webt ein Gespinst aus Verführung, Vaterliebe und Macht, aus dem sich Marie nicht mehr zu entreißen vermag.
Sexualität wird zum brutalen Kernstück einer ungleichen Verbindung, die sich keinen Deut um bürgerliche Moralvorstellungen schert. Sie eröffnet ein schier grenzenloses Spielfeld zwischen Obsession und Macht, zeigt menschliche Abgründe, in denen die Liebe Vorwand und Maske bleibt. Die kindlich-ahnungslose Protagonistin wird zur Spielfigur männlicher Fantasien und
versucht zugleich, sich über ihre eigene sexuelle Macht, deren sie sich bewusst wird, zu emanzipieren. Ihr Scheitern ist vorprogrammiert – ebenso wie das Scheitern einer Gesellschaft, die Heuchelei und Opportunismus zum Prinzip erhoben hat.
Ute Cohen
Satans Spielfeld
Roman | Septime Verlag
Mit einem Nachwort der Autorin zur Neuauflage
»Die Einsamkeit ist Satans Spielfeld.«
Vladimir Nabokov
1
Der Geruch des Wassers kroch die Nasenscheidewand entlang. Mit geschlossenen Augen sog Marie jedes einzelne Molekül ein. Die Faszination für ekelerregende Gerüche empfand sie nicht als beunruhigend. Wenn sie im Schulbus an den frisch gedüngten Feldern vorbeifuhr, kniete sie sich auf den Sitz und atmete durch das Kippfenster den stechenden Geruch von Ammoniak ein. Er füllte ihre Lungen mit einem Schauder, den sie in sich hütete, bis er sich davonschlich. Er erinnerte sie daran, wie sie einmal vor Jahren einen Urinschwall in das Stroh-Gülle-Gemisch eines Misthaufens ergossen hatte, vorsichtig darauf bedacht, das stinkende Gemisch nicht auf die Schenkel spritzen zu lassen. Die Bäuerin, eine griesgrämige Alte, hatte sie misstrauisch beäugt. Lachend war sie davongelaufen. An den schleimigen, mit einem Algenteppich überwucherten Schrägen des Beckenrandes rieb sie gedankenfern ihren Bauch, bis ein Schrei, spitz und grell wie der eines verletzten Tieres, sie erschrocken aufhorchen ließ. Unter tropfenden Wimpern suchten ihre Augen nach dem Opfer.
Vor den hölzernen Umkleidekabinen entdeckte sie ein blondes Mädchen. Zitternd vor Wut stampfte es auf und verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. Sein flaches Gesicht mit dem breiten, geschwungenen Mund leuchtete rot neben einem Fahrrad, das, die Reifen in die Luft gereckt, mit glitzernden Speichen auf dem Sattelrücken im Sand lag. Mit dem Handrücken wischte es sich die Tränen von den Wangen und brüllte ein dunkelhaariges Mädchen mit schulterlangen Locken an. Marie, die Hände an den Beckenrand geklammert, war froh über das Ereignis. Endlich hatte die Langeweile ein Ende. Das blonde Mädchen hatte sich wohl das Knie angeschlagen. Jammernd tupfte es die Wunde ab. Marie musste an den Boxkampf denken, den sie im Fernsehen gesehen hatte. Gebannt beobachtete sie das Treiben. Die Dunkle wirkte muskulöser, körperlich der anderen eindeutig überlegen. Die Blonde aber schien in ihrer Wut zu allem bereit. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, sie griff nach dem Bein der Gegnerin und zog ihr dabei das Bikinihöschen herunter. Der Dunklen stiegen Scham und Zornesröte ins Gesicht, sie ballte die Fäuste und schnappte sich die Luftpumpe, die sie in hohem Bogen in die Luft schleuderte, bis sie auf der Wasseroberfläche aufprallte. Das Wasser spritzte kurz auf, bevor die Pumpe langsam schaukelnd in der Tiefe zu versinken drohte. Blitzschnell griff Marie nach der untergehenden Pumpe und hievte sich mit ihrer Beute über den Beckenrand. »Gehört die euch?«, fragte sie. »Hier!«
Das blonde Mädchen richtete sich auf und wollte die Luftpumpe entgegennehmen, sank jedoch vom Schmerz durchzuckt wieder auf den Rasen zurück. »Das tut verdammt weh!«, wimmerte sie.
Marie kniete sich nieder und beugte sich über sie. »Du musst Spucke auf die Wunde geben und dann ein Taschentuch um das Knie binden!« Sie spuckte in ihre Handfläche und verrieb den Speichel. »Ich bin Marie.«
»Sabine«, sagte das blonde Mädchen, lächelte sie aus grünen Augen an und spuckte auf sein blutendes Knie, »und das ist«, leiser Abscheu zeichnete sich auf ihr Gesicht, »meine Schwester Nicole.«
Das dunkelhaarige, sichtlich jüngere Mädchen verdrehte die Augen und wühlte in einem auf einer großen Bastmatte liegenden Stoffbeutel. Das zerknitterte Taschentuch, das sie zutage förderte, faltete sie zu einem Dreieck und band es um Sabines Knie. Damit hatte sie auch deren Wut gezähmt.
»Wie alt bist du?« Sabine hob den Kopf und sah Marie neugierig an. »Wieso haben wir dich eigentlich noch nie hier gesehen?«
»Gerade umgezogen. Ich kenne niemanden hier«, sagte Marie und schaute zu Nicole hinüber, die nun mit einem Mickey-Maus-Heft auf dem Handtuch lag. »Elf bin ich«, fügte sie hinzu.
»So alt wie ich!« Sabine strahlte. »Wir kommen bestimmt in eine Klasse!«
Marie nickte abwesend, beschäftigt damit, den an ihrem Körper klebenden Häkelbikini auszuwringen. Plötzlich sah sie ein weißes Mercedes Cabriolet mit quietschenden Reifen am Straßenrand anhalten. Ihr stockte der Atem. Verwegen stand er vor ihr. War sie in einem Film? Sein Anblick traf sie wie ein elektrischer Schlag. Wie damals, als sie den Finger in die Steckdose gesteckt und der Strom ihr Blut zum Rauschen gebracht hatte. Taumelnd und zitternd war sie auf dem Boden gelegen. Er lächelte. Sie lächelte, murmelte verlegen eine Begrüßung. Seine Schuhe wirbelten Staubwolken auf, in denen ihre Füße wie in Zuckerwatte versanken.
»Papa!«, riefen Sabine und Nicole und warfen sich ihm in die Arme.
Sah es nur so aus oder wollte er seine breiten, schwarzen Schwingen auch über sie ausbreiten? Sein Blick, umschattet von seiner tief ins Gesicht gezogenen Cabriomütze, schweifte über ihre staksigen Beine, die triefenden Haare, das verlegene, verwirrte Gesicht.
»Ein Eis?«, fragte er und hielt ihr ein Kilimandscharo unter die Nase. Ein fremdes Gefühl schlich sich unter ihre Haut, kribbelnder Appetit.
Natürlich war er verwunschen, der Garten. Vom Himmel ist er gefallen, als der Feuergott wild über die Wolken ritt und blutrote Mohnblüten hier, genau hinter dem Gelben Haus, aufplatzten.
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