Auf dem Sofa saß er, vertieft in einen Ordner. Sie sah ihn, hörte seinen Atem, deutlicher noch als das Lachen, Geschirrklappern und Türenschlagen aus dem Hörer. Warum bemerkte er sie nicht? Dachte er nicht mehr an sie? Ließ er sie warten auf ein Lächeln, einen Blick?
Ein Geräusch. Besorgt, seine Aufmerksamkeit zu verlieren, griff sie in das Schälchen. Vorsichtig löste sie die erste Schicht der Waffel ab, schob den Nagel des Zeigefingers zwischen Waffel und Haselnusscreme. Mit der Zunge leckte sie die Waffel der Länge nach ab, bis die darunterliegende Schicht durchweicht war. Sie genoss, wie sich die Cola mit ihrem schokoladendurchtränkten Speichel vermengte. Sie beruhigte sich, die Erregtheit wich von ihr. Sie wiegte sich im Sessel hin und her und spürte, wie sein Blick sie wieder einfing, einen Kokon um sie spann, der ihre Glieder fest an den Körper presste und sie nach Luft ringen ließ. Wie ein Blitz fuhr er durch das Brustbein abwärts durch ihren Leib. Sie wusste nicht, ob sie den Blitz als Bedrohung empfinden sollte, ob er aufleuchtete an einem fernen Himmel oder ihr Inneres schon verbrannt hatte.
»Marie, endlich!«, erklang Sabines Stimme aus dem Hörer. Marie erschrak über die Laute, hielt den Hörer weg von ihrem Ohr. In ihrem Kopf summten Gedanken, die nicht zu den Tönen aus dem Telefon passten. »Warum hast du so lange nicht angerufen? Hast du uns schon vergessen? Was machst du die ganze Zeit? Wo warst du? Wir sehen uns doch bald wieder?«
»Ja, ganz bald!«, sagte Marie, als stickte sie mit Worten ein Muster, das sie – oder war es jemand anders? – vorgezeichnet hatte.
»Wir gehen jetzt gleich schwimmen.«, sagte Sabine.
»Ja, ich auch«, antwortete Marie.
»Und weißt du, dass ich gestern …?«
Das Muster setzte sich fort, selbsttätig, endlos so weiter. Sah er, wie sie sich mühte, mit unsichtbarem Garn ein anderes Bild stickte nur für ihn? Er lächelte sanft und saugte ihr die Worte aus dem Mund. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen und malte mit dem Finger ein Wort in die Luft, laut und deutlich, als dürfte sie auf Antwort hoffen.
Im Frühjahr waren sie wieder umgezogen. Die Altbauwohnung mit den vier Meter hohen Decken hatten sie gegen eine dünnwandige Wohnung in einer Siedlung am Dorfrand eingetauscht. »Endlich weniger Heizkosten! Endlich weg von diesen Halsabschneidern, obwohl die Pfaffen auch nicht besser sind!«, hatte der Vater gesagt. Und dann zogen sie in eine von der katholischen Kirche gebaute Siedlung, dachte Marie.
Mit Jutta, ihrer neuen Freundin aus dem Gymnasium, saß sie nun im Keller der neuen Wohnung. In den Metallregalen stapelten sich Fotozeitschriften, Objektive, Stative und Kameras. Marie kannte den Namen jeder einzelnen Kamera. Der Vater steckte jeden Pfennig in seine Sammlung, und dann war wieder kein Geld mehr übrig für Essen und Kleider. Wie er sie langweilte, wenn er ihr die Funktion eines Weitwinkels erklärte und die unterschiedlichen Farbfilter zeigte! Nur eine schmale Minox C, eine etwa drei Streichholzschachteln lange Kleinstbildkamera mit elektronischer Belichtungsautomatik, hatte es ihr angetan. Jedes Mal, wenn sie die Kamera in die Hand nahm, fühlte sie sich wie eine Agentin, die, mit Hut, Sonnenbrille und Staubmantel ausgerüstet, feindliche Mächte ausspionierte, gefährlichste Abenteuer bestand und die Welt rettete.
»Du hast doch keine Ahnung von einem Agentenleben«, sagte Jutta, »da gibt es Riesen, die mit ihren stählernen Zähnen das Genick ihrer Opfer durchbeißen! Die werfen dich einfach in ein Haifischbecken und schon bist du tot!«
Marie bekam eine Gänsehaut. Sie versuchte noch einen kurzen Moment den Schauer unter ihrer kribbelnden Haut zu wahren, bevor er endgültig durch ihre Poren entwich. Als sie die Augen wieder öffnete, prangten grellorange Buchstaben auf weißem Grund. John Travolta 1979.
»Der ist für dich!«, sagte Jutta stolz und drückte ihr den Kalender in die Hand. Marie strahlte über das ganze Gesicht, der Ärger über die verdorbene Flucht in die Agentenwelt war schon verflogen. Sie konnte nicht umhin, jeden einzelnen Buchstaben des Kalenders zu befühlen und schlug das erste Blatt auf. Es war, als läge eine Süßigkeit, unwiderstehlich tröstlich, auf ihrer Zunge. Sonnengelber Januar, Dany dicht an ihrem Herzen.
»Weiter! Weiter!«, rief Jutta und schlug selbst das nächste Kalenderblatt auf, summte, als wäre es nicht schon genug, dass sie in ein rotes Herz mit Sandy und Dany starren musste, »You’re the one that I want«. »Weiter!«, trieb sie Marie an. Endlich ihr Lieblingsbild! Dany saß auf der Schaukel mit schwarzer Lederjacke und weißem Shirt. Marie erinnerte sich an einen Film mit Marlon Brando, den sie mit acht, neun Jahren gesehen hatte. John Travolta versetzte ihr den gleichen Stich ins Herz wie Marlon. Sie schloss die Augen und begann ihr Lieblingslied zu singen. Wie oft hatten sie es gehört? Spul zurück, bitte! Noch einmal! »Love has flown. All alone / I sit and wonder w-h-y / oh why you left me / oh Sandy!« Sie hatten die Englischlehrerin bekniet, ihnen den Text aufzuschreiben. Jedes einzelne Wort, das Dany sagte, wollten sie verstehen. Marie stellte sich vor, wie Dany Sandy küsste. Ihre Wangen glühten vor Traurigkeit und Wut. »Vergiss die blöde Sandy!«, Jutta machte eine abwinkende Handbewegung. »Schau mal, ich habe noch ein Geschenk für dich!« Sie öffnete eine mit roten Herzen beklebte Schachtel und präsentierte Marie den Inhalt. Fünf Buttons mit John-Travolta-Porträts lagen kreisförmig angeordnet auf Wattevlies. Vorsichtig entnahm sie einen Button, öffnete die dünne Bogennadel und heftete ihn an Maries Jeansoverall. Dann zog sie den roten Reißverschluss des Overalls etwa zehn Zentimeter nach unten, stellte den spitzen Kragen hoch und bewunderte ihr Werk. »Und jetzt schau dich mal im Spiegel an!« Sie zog einen Taschenspiegel aus ihrer Batiktasche und hielt ihn Marie vors Gesicht. Dany blickte von Maries Brust hoch in ihre gesenkten Augen.
Einen Moment lang, vielleicht eine Sekunde oder zwei, zumindest aber so lange, bis sie Worte fand für ihr Trugbild, war Bauleitner es, der sie anlächelte mit glühenden Augen und lockigem Haar. Marie erzählte Jutta von seinem Auto, dem Gelben Haus und der Brünetten auf der Kirchweih. Ihr langes, braunes Haar streifte Danys Wange und liebkoste sein Grübchen. Jutta, summte, steckte die anderen vier Buttons an Kragen und Brusttaschen. Jetzt waren sie untrennbar verbunden. Alle sollten wissen, dass sie ihm gehörte! Danys Mund im Spiegel bewegte sich im Rhythmus ihres pochenden Herzens: »Hopelessly devoted to you«.
Wie auf einem schmalen Negativstreifen reihte sich ein Bild an das andere. Marie telefonierte in seinem Arbeitszimmer. Sie rasten den Abhang hinab. Sie lagen sich in den Armen. Drei Schwestern, ein Vater. Er nannte sie seine dritte Tochter, entführte sie aus dem Labyrinth verbitterter Gesichter, dem Gezeter der Eltern.
»Ich komme gleich wieder! Ihr bleibt schön brav sitzen und wartet!«, sagte Bauleitner in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, stieg aus und verriegelte den Wagen. Ohne sich umzudrehen, ging er geradewegs auf den Bungalow zu, öffnete das Gartentor und verschwand hinter einer Eibenhecke.
Sie blickten einander verdutzt an. Hatte er sie tatsächlich eingeschlossen? Sie rüttelten an den Türen und versuchten vergeblich die Fenster zu öffnen. Der Schreck ergriff ihre Glieder. Dracula verschleppte sie in seine dunklen Gemächer, um endlich seine spitzen Zähne in ihre Hälse zu bohren und ihr Blut bis auf den letzten Tropfen auszusaugen. Eine halbvolle Flasche Sprudelwasser, die Sabine unter dem Fahrersitz fand, erlöste sie einen Moment lang von der Sehnsucht nach Kühlung. Sabine schraubte den Drehverschluss auf. Das von der Fahrt durchgeschüttelte Wasser spritzte ihnen entgegen. Marie rieb sich den feinen Nebel ins Gesicht und befeuchtete ihre Lippen. Schwesterlich teilten sie sich den Rest der Flasche.
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