Tonio Kröger.Tonio wird als ein südländischer brünetter Typ mit weichem Kinn, der aus »umschattete[n] Augen mit zu schweren Lidern« (S. 8) träumerisch in die Welt schaut, beschrieben. Die »umschattete[n] Augen« signalisieren Züge von mangelnder Lebenskraft bei dem Helden. Er ist empfindsam, interessiert sich für Literatur, dichtet selbst und liebt das Meer. In seiner Fähigkeit zur Reflexion und seiner Vorliebe für die Poesie steht er für einen künstlerisch-sensiblen Typ mit eher femininen als maskulinen Eigenschaften und stellt eine Außenseiterfigur dar. Für das bürgerliche Erwerbsleben ist er offensichtlich untauglich.
Er fühlt sich als Jugendlicher von Schulkameraden und den Lehrern ausgegrenzt und leidet darunter. Mehr noch aber leidet er an der unerwiderten Liebe zu Hans und Ingeborg. Seine poetischen Neigungen und sein mangelnder Schulerfolg stehen einer sozialen Zugehörigkeit im Wege. Zugleich ist er durch den großbürgerlichen Lebensstil des Elternhauses geprägt und behält auch später in seinem Leben seinen bürgerlichen Habitus bei, wie sich an seiner Kleidung (grauer, gediegener Anzug), seinen Höflichkeitskonventionen, über die Lisaweta leicht spottet – »[…] kommen Sie ohne Ceremonien herein!« und »Es ist bekannt, daß Sie eine gute Kinderstube genossen haben und wissen, was sich schickt.« (S. 28) –, sowie seinem Reisestil »mit Komfort« (S. 43) und der Wahl des ersten Hotels in der Vaterstadt zeigt. Er entwickelt sich zwar zu einem anerkannten Schriftsteller, bleibt aber in seiner bürgerlichen und künstlerischen Identität gespalten.
Sein NameName deutet bereits auf eine nordisch-bürgerliche und südlich-künstlerische Seite im Helden hin: Der Vorname Tonio ist eine Abkürzung von Antonio, so heißt der Bruder der Mutter, und verweist auf das Südländisch-Künstlerische. Zugleich wird auf die Figur des Tonio in Ruggero Leoncavallos Oper Der Bajazzo 1 – ein umherziehender und unglücklich verliebter Komödiant – angespielt. Der Nachname Kröger kommt bereits in dem Roman Die Buddenbrooks vor und ist in Tonio Kröger der Familie des Vaters und seinem nordischen Typus zugeordnet.
Gegensätzlich sind auch die Wesenszüge von Tonios ElternEltern. Während der Vater mit seinen blauen Augen, seiner Korrektheit und der sorgfältigen Kleidung für den nordischen, aufrechten und verantwortungsbewussten Typus des gehobenen Bürgertums steht und Anstoß nimmt an den schlechten Schulleistungen seines Sohnes, wird die Mutter mit ihren schwarzen Haaren als südländisch-exotisch beschrieben. Ihr spanischer Vorname »Consuelo« (S. 10), der wörtlich ›Trost‹ bedeutet, unterstreicht ihre südländische Herkunft. Sie musiziert, spielt Klavier und Mandoline und trägt wie ihr Sohn das Merkmal der Andersheit (S. 10 f.).
Tonio hat eine Distanz zu seiner Mutter, obwohl sie sich in ihrem Wesen ähneln, und hält sie für etwas »liederlich« (S. 11). Dagegen erkennt er seinen Vater, dessen Autorität und Wertmaßstäbe an und hält dessen Maßregelung seines mangelnden Schulerfolgs für völlig in Ordnung.
Konsul Kröger.Die Figur des Konsuls Kröger ist vielschichtig angelegt, wie seine äußere Beschreibung zu erkennen gibt: »[…] ein langer, sorgfältig gekleideter Herr mit sinnenden blauen Augen, der immer eine Feldblume im Knopfloch trug« (S. 10). Die sorgfältige Kleidung des Konsuls Kröger ist Ausdruck seines bürgerlichen Selbstverständnisses und Lebensstils. Dagegen deuten die sinnenden blauen Augen, die Feldblume im Knopfloch und Eigenschaften wie wehmütig (S. 49, 72) und nachdenklich (S. 49), die ihm im Laufe des Textes zugesprochen werden, auf eine sensible, künstlerische Seite in ihm. Die Feldblumen sind eine Anspielung auf Theodor Storm, in dessen Werk sie Dichtung symbolisieren, und auf ein Altersbild von Storm, auf dem er eine Feldblume trägt.2
Hans Hansen.Hans wird im Unterschied zu Tonio mit sportlich-maskulinen Eigenschaften ausgestattet. Er ist eine attraktive Erscheinung mit schmalen Hüften, stahlblauen Augen und festem Gang. Er reitet, spielt Tennis, segelt, schwimmt und ist blond und blauäugig und entsprechend der Mode der Zeit in einen Matrosenanzug gekleidet. Statt für schöne Literatur interessiert er sich für Sport, Pferdebücher und ist von den einzelnen Phasen eines galoppierenden Pferdes in den Augenblicksphotographien, die erstmalig der amerikanische Photograph Eadweard Muybridge3 im 19. Jahrhundert festhielt, gefesselt. Hans Hansen steht für männliche Stärke und Lebenskraft und eine ungebrochene Bürgerlichkeit. Anders als Tonio ist er sozial integriert und genießt die Achtung seiner Mitschüler und Lehrer.
Ingeborg Holm.Ingeborg erhält als Figur keine eigene Stimme, sondern wird in ihrem Aussehen und Verhalten vorrangig aus der Sicht Tonios beschrieben: blonder Zopf, lachende blaue Augen, das übermütige Werfen des Kopfes, die Hand, die an den Hinterkopf geht und dabei den Ärmel ihres Kleides zurückfallen lässt (S. 17). Das Zusammentreffen zwischen Tonio und Inge erfolgt im Tanz; es findet keine direkte Kommunikation statt. Während Tonio sie liebt, beachtet sie ihn nicht und lacht bei seinem Tanzfehler über ihn. Sie vertritt den nordischen Typus und eine unbekümmerte Lebensfreude.
Magdalena Vermehren.Eine Gegenfigur zu Ingeborg ist Magdalena Vermehren. Sie fühlt sich von Tonio angezogen gerade auch aufgrund der Merkmale, für die andere ihn ausschließen: seine Sensibilität und poetische Tätigkeit. Da sie während des Tanzens hinfällt, wirkt sie ungeschickt und schwach. Sie ist innerhalb der bürgerlichen Welt eine Außenseiterin, markiert durch äußere Merkmale, die innerhalb der Novelle als ›südländisch-sensibel‹ konnotiert sind: braune Haare und dunkle Augen. Wegen ihrer Ähnlichkeit und Wesensverwandtschaft zu ihm und ihrer Ungeschicklichkeit lehnt Tonio sie ab.
Lisaweta Iwanowna.Die russische Malerin Lisaweta ist die einzige Freundin Tonios und stellt als Künstlerin und in ihrem Selbstverständnis eine Kontrastfigur zu Tonio dar. Sie ist äußerlich von ihrem lockeren, bohèmehaften Lebensstil und ihrer Kleidung (fleckiges Arbeitsgewand, S. 28) her das genaue Gegenbild zu Tonio und seinem gutbürgerlichen Auftreten. Sie ist der russischen Literatur eng verbunden und stellt innerhalb der Novelle eine Schlüsselfunktion für den Selbstfindungsprozess des Helden dar. Sie selbst lebt in Übereinstimmung mit sich und ihrer künstlerischen Existenz. Ihr Name taucht in der russischen Literatur auf wie z. B. in Eine alltägliche Geschichte (1847) von Iwan Gontscharow und in Iwan Turgenjews Roman Das Adelsnest (1859), in dem die Hauptfigur Jelisaweta M. Kalitina heißt. Der Nachname deutet auf Iwan Turgenjew selbst hin.4
Der Tanzlehrer.Eine fragwürdige Figur ist der Tanzlehrer François Knaak, der affektiert, wohlgefällig und selbstbezogen auftritt und sich einen künstlerischen Anstrich gibt. Ironisch demaskiert der Erzähler ihn als eine lächerliche Figur mit seinen Posen, tänzelnden Schritten, Drehbewegungen und seinem falschen Französisch. Für Tonio ist er ein »unbegreiflicher Affe« (S. 20). Sein Name kombiniert das Französische mit dem Nordischen.
Zu den Spiegelfiguren von Hans, Inge, Knaak und Magdalena gehören das dänische Paar, der dänische Festordner und das hinfallende dänische Mädchen, denen der Held in Aalsgaard begegnet. Während das dänische Paar mit denselben äußeren Eigenschaften wie einst Hans und Inge beschrieben wird, ist das dänische Mädchen zwar dunkeläugig wie Magdalena Vermehren, hat aber mit ihren spitzen und dürftigen Schultern (S. 68) an Attraktivität verloren.
Hans Hansen, Erwin Jimmerthal und Ingeborg Holm Vertreter verschiedener Daseinsformenverkörpern das ungebrochene bürgerliche Leben. Konsul Kröger ist zwar Repräsentant des patrizischen städtischen Bürgertums, vereint aber in sich eine bürgerliche und eine künstlerische Seite. Diesen Figuren stehen die Außenseiter der bürgerlichen Welt (Tonio, Magdalena sowie Tonios Mutter mit ihren musischen Neigungen und ihrer unkonventionellen Art) und Angehörige der künstlerischen Welt gegenüber. Die Figuren werden über ihre soziale Charakterisierung hinaus als Vertreter verschiedener Daseinsformen, Lebenshaltungen und Kunstanschauungen dargestellt.
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