»Gesuch«, las er vor. »Hiermit bitte ich darum, wie viele der Insassen hier meinen Namen zu ändern. Zukünftig möchte ich nicht mehr mit Argyle, sondern mit dem Namen Aristophanes angesprochen werden. Aristophanes, ja?«
Nicken.
»Wie der griechische Diplomat?«
Kopfschütteln.
Doktor Lazarus hob eine Augenbraue. »Nicht?«
Erneutes Kopfschütteln. Der Alten nahm sein Buch zur Hand, schlug es auf und blätterte.
»Im Symposium von Platon lässt der Philosoph den fiktiven Komödiendichter über Eros und die Kugelmenschen reden. Ich bin der fleischgewordene Aristophanes, der von seiner Liebe getrennt wurde, nur eine Hälfte von etwas, und die andere ist unerreichbar.«
Nicken. Doktor Lazarus schrieb etwas auf.
»Ich werde Ihren Gesundheits- und Geisteszustand weiter beobachten und nur einschreiten, sollten sich Veränderungen ergeben. Ist das in Ordnung für Sie?«
Nicken.
»Gut. Dann verabschiede ich mich für heute, Sie können gehen.«
Der alte Mann ging und Doktor Lazarus nahm sich eine weitere Nuss. Mit dieser hatte er erhebliche Mühe, sie zu knacken.
In den kommenden Monaten lebte sich Aristophanes in das Residenzleben ein. Auf seine eigene Art, denn er verschmolz mit der Residenz, wurde zu einem Inventar oder Möbel, das niemand mehr bewusst wahrnahm. Obwohl er zu den gewöhnlichen Essenszeiten mit den anderen speiste, an Exkursionen ins Umland teilnahm und sich oft und viel außerhalb seines Zimmers bewegte. Es war auch nicht so, dass er Kontakte mied. Oder Gespräche. Aber er war derjenige, der zuhörte und notierte. Und nach dem Gespräch wieder in Vergessenheit geriet. Seine Unscheinbarkeit erlaubte ihm auch nachts unauffällig durch die Residenz zu streifen, was eigentlich verboten war, denn ab zweiundzwanzig Uhr galt die Bettruhe. Aber nur die wenigsten hielten sich daran, wie Aristophanes schnell feststellen konnte. Ebenso wie er entdeckte, dass die Nacht und vor allem der Mond auf viele der Bewohner einen besonderen Reiz ausübte, vor allem der Vollmond. Nachdem er aber ausfindig gemacht hatte, dass seine gelbe Königin einfach keine festen Gewohnheiten pflegte und nicht einzuordnen war, stellte er seine nächtlichen Streifzüge bis auf Weiteres ein. Sie waren ihm zu unheimlich und gefährlich. Es gab zum Beispiel den Butzemann, der ihm nicht geheuer war, oder die Lady Banshee de Lily, die angeblich vorwiegend nur wie ein Schatten durch die Residenz geisterte und sich von den geheimen Ängsten der Insassen ernähren sollte. Wie Mücken Blut tranken, so labte sie sich an den Albträumen und Ängsten der Mitbewohner. Aristophanes glaubte sie mehrmals gespürt zu haben, wie einen eiskalten Hauch, der einem in den Rücken wehte oder ein Huschen, das flugs im Zwielicht verschwand. Jetzt kannte er also die dunkelsten Winkel der Residenz und ihrer Bewohner und sei es nur vom Hörensagen, sodass er wusste, wer sich zum Beispiel Tag für Tag überwinden musste, in den Speisesaal zu kommen oder wer in der Nacht geschrien oder geweint hatte, ebenso wie er alle kannte, die glaubten, längst Verstorbene gesehen zu haben, aber er wusste nichts über seine Liebe. Nur den einen Satz von Doktor Lazarus an dem Tag seiner Ankunft gesprochen hatte. Ihren Namen, Kassandra und, dass sie allen Grund hatte, zu leiden und er sich von ihr fernhalten sollte. Ansonsten traf er sie nur zufällig und unter Menschen, nie hat er sie seither so privat und vertraut gesehen, wie damals, als er sich verliebt hatte und er sie beim Tanzen beobachten konnte. Und er konnte nicht unauffällig bleiben und rund um die Uhr ihre Zimmertür bewachen, obwohl sie im etwas ruhigeren Westflügel am Ende eines Ganges ein Zimmer bewohnte und zwischen ihrem und dem nächsten Zimmer ein Schwesternzimmer untergebracht war. Er wartete also oft in der Umgebung ihres Zimmers, am liebsten lungerte er an jener Kreuzung, wo der Korridor in ihren Trakt auf den Hauptgang des Westflügels führte. Hier stand an einer Wand ein runder Tisch mit Glasaufsatz, auf diesem waren wiederum immer frische Schnittblumen und links und rechts zwei gemütliche Stühle. Wenn nicht Kapitän Ahab dort saß und verdrießlich dreinschaute, wurde dieser Platz zu seinem Lieblingsort, aber Kassandra hatte er dennoch bisher nicht abpassen können. Der Herbst ging in den Winter über, der Winter wurde zum Frühling und mit der einsetzenden Schneeschmelze traf er endlich, endlich wieder auf sie. Ihm war klar, dass sie wahrscheinlich nicht ständig in gelbe Kleidung gewandet war, aber auch an diesem Tag trug sie ein goldgelbes Kleid sowie einen schwarzen Hut mit einem Schleier, der ihr Gesicht verdeckte. Eine auffallende und ungewöhnliche Kombination, wie Aristophanes fand, ohne über Kenntnisse oder reichhaltige Erfahrungen über die Kleiderwahl der Frauen zu verfügen. Sie eilte an ihm vorbei in den Hauptgang, er erhob sich von seinem Sitz, hätte beinahe die Blumen umgestoßen (er fragte sich immer noch, wie es in der Residenz auch im Winter frische Schnittblumen geben konnte, aber das war nur eines von vielen Geheimnissen, die die Residenz betrafen und sich mittlerweile vor ihm auftürmten) und lief ihr nach. Dieses Mal blieb sie nicht stehen oder verharrte, weil sie ihn in irgendeiner Weise spürte. War sie etwa aufgeregt und dadurch abgelenkt? Wenn ja, warum? Er spürte den großen Drang in sich, sie zu beschützen und auch, wenn er den Drang aufgrund seines Alters irgendwie albern fand, er konnte ihn nicht unterdrücken. Seine Königin lief zum Haupteingang und anstatt durch das Tor zu gehen, verweilte sie kurz vor einem Fenster und spähte auf den Platz. Jetzt fiel ihm ein, dass sich dort heute in der Frühe alle Ausflügler treffen wollten, die eine Reise zur Küste unternehmen und über Nacht auch dort bleiben würden. Versprochen war, dass alle dort Muscheln sammeln, sie in einem Kübel voll Eis hierher bringen, damit es dann für alle in der Residenz Muschelsuppe geben konnte. So wie er das sah, war das zu einer gewachsenen Tradition geworden, da er den Namen Kassandra aber nicht auf der ausgehängten Liste gefunden hatte, schenkte er dem Ausflug selbst auch keine weitere Beachtung. Bis jetzt. Sie verharrte dort, ging einen Schritt zurück, einen wieder vor, als haderte sie mit einer Entscheidung. Dann fasst sie sich ein Herz und stürmte mit Elan aus der Tür hinaus auf den Vorplatz. Aristophanes lief zum Fenster und beobachtete. Er sah, wie Kassandra auf die Reisegesellschaft zuhielt, aber immer langsamer wurde und dann etwa fünf Meter vor dem Kern der Gruppe als Satellit stehen blieb. Nicht auffällig, denn auch die Kutscher und andere Insassen standen vereinzelt drum herum. Einige rauchten, alle genossen die Sonnenstrahlen, die hier so selten Wärme spendeten, wie Wasser in der Wüste auftauchte. Es sah aus, als würde Kassandra wie zwanghaft versuchen, niemanden von den Mitinsassen anzusehen, sie wandte den Blick zu Boden oder gen Himmel und beobachtete das Geschehen nur aus den Augenwinkeln. Er erschrak, als sie wie ein Rochen auf Beutejagd auf einen Mann zustürzte, der gerade aus der Gruppe hinaustrat, um sich eine Zigarette anzuzünden und gleichfalls erschrak, als Kassandra sein Gesicht in beide Hände nahm, ihn ansah und dann auf die Stirn küsste. Sie ließ ihn los, strich ihm mit der rechten Hand über seine linke Wange, eine Szene mit einer Zärtlichkeit, die sich für immer in Aristophanes Geist brennen und ihn fortan verfolgen würde. Sie wandte sich um und eilte genauso geschwind, wie sie gekommen war, wieder zurück. Er verbarg sich in der Ecke, kroch beinahe hinter die Gardine und warf einen Blick auf den Mann, dem diese außergewöhnliche Liebkosung zuteilgeworden war. Er hieß Paul, war alt, aber gut aussehend, mit noch relativ dunklen Haaren, die ihm stets etwas in die Stirn fielen und einer Jacke, deren Kragen er immer aufstellte. Paul malte. Oft verstörende Familienporträts mit Menschen ohne Gesichter und nachts hatte Aristophanes ihn auch schon einmal in seinem Zimmer schreien gehört. Paul sah Kassandra nach, andere Männer lachten, einer schlug ihm anerkennend auf die Schulter und Aristophanes konnte im Blick des Künstlers etwas Gefährliches lodern sehen. Auch dieser hatte sich in diesem Moment unsterblich in seine Königin in Gelb verliebt. Also musste Aristophanes Paul kennenlernen. Seinen Konkurrenten. Er musste mit auf den Ausflug.
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