»Was weißt du von Schmerz?«, fragte sie. »Nichts weißt du! Der Schmerz Sterbender und Trauernder. DAS IST SCHMERZ.«
Was für eine Arroganz. Als ob ein Nachtmahr nichts von Schmerzen wüsste. Trotzdem hat mir ihre Nähe gutgetan: zumindest eine Weile lang. Wie wir uns ähneln: Auch sie genießt Gesellschaft nur in kleinen Dosen. Irgendwann hatten wir einander fürs Erste genug erzählt. Also ging sie hierhin und ich ging dorthin.
Kurz vor meiner Rückkehr in die Residenz begann es, zu nieseln. Ich sah das Holzfräulein auf einer Wiese. Sie tanzte zu einer Musik, die nur sie alleine hörte. Sie winkte mir zu. »Siehst du mich?«, fragte sie laut. Ich verneinte erneut. Aber dieses Mal schien es, als glaubte sie mir nicht. Sie lächelte. Wie zufrieden sie wirkte, wie glücklich, zumindest für den Augenblick. Regen. Unhörbare Musik. Ein Tanz. DAS ist Glück. In einer von Tausenden Varianten. Nur Narren sind dafür blind.
Ein Hoch auf Schottlands Whisky
Gestern Abend bin ich mit Franky in den Pub gegangen: Drunken Mermaid . Der Wirt heißt Conner Mackay und ist ein Bruder von Angus Mackay, des verehrten Managers der Residenz. Zufall? Niemals. Wahrscheinlich besetzen die Mackays zahlreiche Positionen in der Residenz und im Dorf. Jämmerliche Provinzfürsten. Hamish Mackay, ein Sohn des Managers, arbeitet bei uns als Pfleger. Der Lebensmittelshop im Ort gehört wahrscheinlich Roana Mackay und Colin Mackay schneidet den Dorfbewohnern die Haare. Davina Mackay leitet die Mehrheitspartei und Bonnie Mackay ist Bürgermeisterin, die von Ian Mackay bestochen wird, während Lennox Mackay die Opposition in den Abgrund führt. So ist das. Bestimmt!
Franky ist ziemlich abgedreht. Gestern hat er mir seine Schweißdrüsen gezeigt: mit fünfstufigem Geschwindigkeitsregler und Turboschalter. Das Beste: Der Schweiß duftet nach Rosenblatt und Minze. Er meinte, bei Frauen käme das sehr gut an. Das glaube ich sofort (nicht). Franky hat mich mit Gerüchten und Klatsch versorgt, während wir uns volllaufen ließen. In der Residenz soll ein Trakt für besonders schreckliche Monster existieren, den wir normalen (normalen!!!) Monster nicht betreten dürfen. Einige behaupten sogar, dass der Sensenmann dort lebt. Fakt ist: In der Residenz gibt es diverse verschlossene Türen, hinter denen sich – so glaube ich – mehr als einzelne Räume verbergen.
Was gab es noch? Man erzählt sich, dass der Doktor eine Affäre mit Lady Banshee hat, die hier angeblich viel Einfluss besitzt. Die Killertomaten sind angeblich mutierte Karotten, ein missglücktes Experiment des Doktors, über das er nicht gerne spricht. Der rumänische Graf ist (ebenfalls angeblich) laktoseintolerant. Und die schwarz gekleidete Violinistin namens Jill, die im Westtrakt der Residenz wohnt? Ihre Musik sei in der Lage, Löcher in die Wirklichkeit zu reißen. Löcher. Klar. Und der Butzetanz öffnet das Tor zur Hölle. Schwachsinn. Auf dem Rückweg vom Pub schaute ich fasziniert in den Himmel. Er war schön: so viele Sterne. Ich sah mehr Sterne als je zuvor, sank auf die Knie … und kotzte. Der gute Whisky. Alles raus. Merke: Butzemänner können sehr verschwenderisch sein. Und sehr romantisch!
Chaos im Gemeinschaftsraum
»Jemand wird sterben, hat Franky heute gesagt. »Bald schon. Elodie spürt es. Ihr Kopf zerplatzt. Ihre Muskeln bersten. Ihr Herz schlägt aus dem Takt.«
Was soll ich davon halten? Frankys Satz war am Abend der Abschluss einer hässlichen Szene im Aufenthaltsraum. Ich war noch draußen, als ich das Geschrei hörte. Franky und Elodie. Franky klang verzweifelt, Elodie wie ein kreischender Dämon. »Schau! Schau hinein«, schrie sie. Als ich den Raum betrat, sah ich folgende Szenerie. Franky saß auf einem Stuhl an einem Tisch und bedeckte seine Augen mit beiden Händen. Elodie stand vor ihm und hielt ihm einen Handspiegel vors Gesicht. »Du belügst dich. DU BELÜGST DICH!«, schrie sie ihn an. »DU BIST EIN IDIOT.«
Alle anderen im Raum schwiegen, während die Schwestern Lavinia und Moira versuchten, Elodie von Franky wegzuzerren. Aber Elodie entwand sich ihrem Griff, warf den Handspiegel auf den Tisch, drehte sich um hundertachtzig Grad und stapfte wutschnaubend aus dem Raum. Ich eilte zu Franky, dessen massiger Körper heftig zitterte. Nie habe ich ein derart verzweifeltes Wesen gesehen. Ich fand es abscheulich, was Elodie ihm angetan hat. Aber er nahm sie in Schutz. »Sie meint es nicht so«, sagte er. »Und eigentlich hat sie recht. Ich bin keine Elfe. Ich war nie eine, werde nie eine sein.«
Vielleicht war dem so. Vielleicht ist die Sache mit der Elfe wie eine Krücke, auf der Franky durch sein Leben stapft. Aber darf man jemandem eine Krücke entreißen, wenn man ihn nicht zugleich lehrt, ohne sie zu laufen? Und überhaupt: Ist nicht vielleicht doch jeder eine Elfe, der Elfe sein möchte? Ich war wütend auf Elodie. Aber ich mochte sie auch. Immer noch. Ganz am Ende sagte Franky diesen Satz, dass bald jemand sterben wird. Soll ich das ernst nehmen? Das ist doch Unfug. Oder?
Heute sah ich das Fräulein
Heute Morgen traf ich Franky wieder. Franky, die Elfe. Elodie hat sein Selbstverständnis nicht nachhaltig beschädigt. Ist das gut? Ich weiß es nicht. Mir geht Frankys Satz, dass bald jemand sterben wird, nicht mehr aus dem Schädel. Etwas hat sich verändert in der Residenz. Viele Bewohner fürchten sich, weil sie an Elodies Vorahnung glauben. Wer wird sterben? Niemand weiß es. Niemand mutmaßt. Auch ich bin nervös.
Am frühen Mittag begegnete ich im Flur erneut dem Holzfräulein. Ehe sie ihre Frage stellen konnte, rief ich: »Ja. Ich sehe dich!« Die Wirkung war bemerkenswert. »Oh«, sagte sie überrascht und errötete, »Wirklich?«
»Rede ich Chinesisch, oder was? ICH SEHE DICH!«, erwiderte ich.
»Oh«, wiederholte das Holzfräulein, lächelte verträumt und zog zufrieden von dannen. Erstaunlich, was Worte manchmal bewirken.
»Das hat ihr gut getan«, sagte der Hausmeister, der die Szene beobachtet hatte. »Du bist ein feiner Kerl. Manchmal. Vielleicht nicht sehr charmant. Aber trotzdem …«
Ein feiner Kerl. Nicht sehr charmant. Als ob ein Butzemann charmant sein müsste.
Der schrecklichste Tag meines Lebens
Man hätte meinen können, Elodies Schreie seien mir nach der Szene im Aufenthaltsraum vertraut gewesen. Aber dem war nicht so, nicht einmal annähernd. Der Schrei einer Todesfee ist schrecklich. Brutal. Vernichtend. Er übertrifft alles, was ich zuvor gehört habe. Der Kopf vibriert. Tausende Nadeln stechen ins Hirn. Man möchte sterben.
Es war später Morgen. Ich stand in der Empfangshalle, bereit für meine tägliche Wanderung. Da begann ihr Schreien. Ich sah, wie Elodie die Treppe hinunterhetzte, Stufen übersprang und fast stürzte. Sie erreichte den Fuß der Treppe, verfolgt von zwei Schwestern, von Pfleger Mackay und vom Hausmeister. Elodie hastete zum Ausgang, stieß dabei mit mir zusammen und fiel – ohne jede Eleganz – auf den Boden, wo der Hausmeister und eine Schwester sie festhielten.
Elodie wehrte sich heftig. Ihr Schreien verwandelte sich in Lachen, gemischt mit Kreischen und undefinierbaren Lauten. »Ein Vollpfosten! Ausgerechnet ein Vollpfosten hält einen auf«, schrie sie, lachte und lachte, schaute mich an und lachte immer weiter, bis sie in Ohnmacht fiel. »Vollpfosten.« Ich hätte beleidigt sein müssen, aber ich war es nicht. »Was weißt du schon von Schmerz?« Gerade jetzt erinnerte ich mich an unser Gespräch. Wahrscheinlich wusste ich nichts. Gar nichts. Elodie tat mir leid, als sie am Boden lag. Zugleich hatte ich Angst. Der Einzige war ich nicht. Das unerträgliche Schreien der Todesfee. Irgendwer wird sterben. Jetzt glaubte auch ich es.
Jemand starb
Das Holzfräulein ist tot. Ausgerechnet sie. Schwester Moira fand sie mittags in ihrem Zimmer. Das kleine Herz schlug nicht mehr. Vielleicht überforderte das Leben irgendwann so ein kleines Herz. »Sie lag auf ihrem Bett und lächelte«, erzählte man mir. Glücklich habe sie ausgesehen. Ich denke gerade an jenen Tag, an dem ich sie tanzen sah. Sie war ein liebes Geschöpf, manchmal anstrengend, bisweilen unglücklich, aber oft zufrieden, sichtbar auf dieser Welt zu sein, als Geschöpf unter Geschöpfen. Ich bin froh, ihr noch rechtzeitig gesagt zu haben, dass ich sie sehe.
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