Ich glaube, man kann einiges lernen von einem Holzfräulein, selbst ich alter Butzemann. Auch ein Monsterleben, das das der Menschen überdauert, ist schnell vorbei. Man sollte es mit schönen Momenten sprenkeln, den bestmöglichen ihrer Art. Man sollte versuchen, das Leben zu durchtanzen, selbst bei Regen, wir alle hier, selbst der alte Butzemann, der das hier gerade schreibt.
Am Ende wartet immer der Tod
Ein wolkenloser blauer Himmel. Der Himmel weint nicht, wenn jemand stirbt. Vielleicht weinen Hinterbliebene. Den Himmel interessieren die Toten nicht. Er kleidet sich in graue Wolken oder in Blau. Er spendet Wärme, Regen, Schnee oder Eis. Wie jeden Tag. Ein einzelner Tod ist belanglos für die Welt. Das Meer nagt weiter am Felsen, als sei nichts geschehen. Der Mond zieht seine Bahnen. Zurück bleibt Erinnerung und auch sie wird mit jenen vergehen, die später sterben.
Fast alle Einwohner der Residenz kamen, um das Holzfräulein zu beerdigen. Die Gemeinschaft der Unterschiedlichen nahm Abschied. Auch ich gehöre jetzt zu ihr. Elodie fehlte am Grab. Sie war zu schwach. Ich werde sie nachher besuchen. Ich mag sie und ich glaube, sie mag mich ebenso: den kleinen Herrn Butzemann, der einst Kinderschreck war. Und Clown. Was die Zukunft ergibt: Wer weiß das schon?
Die Residenz ist für mich heute viel mehr als der Schuhkarton, den ich anfangs gesehen habe. Wir alle sind die Residenz: Franky (die Elfe), Elodie mit den roten Haaren und den blauen Strähnchen, Doktor Lazarus und der Manager, die Lady und selbst der alte Graf, der blutige Steaks liebt und nie mein bester Freund sein wird. Wir alle leben hier das Leben, das uns bleibt. Wir alle leben es gemeinsam. Und es ist gut so, wie es ist.

Vincent Voss
Halber Mensch
Seine Königin in Gelb stand allein auf dem weit ins Land reichenden, englischen Rasen vor den blühenden Rhododendren, als es zu regnen begann. Sie klappte einen Schirm auf, der eigentlich als Schutz vor den Strahlen der heißen Junisonne dienen sollte, um jetzt ihr zitronengelbes Kleid und den gleichfarbigen Hut zu schützen, verweilte so einen Augenblick unter dem Schirm und verzog das Gesicht, was ihrem Antlitz in seinen Augen eher ein niedliches Schmollen, denn ein zorniges Grimmen verlieh, klappte den Schirm wieder zusammen und begann, im Regen zu tanzen. Sie breitete die Arme aus und hieß die dicken Tropfen auf ihrem Kleid und ihrem Körper willkommen.
Er war dreiundachtzig Jahre und lag auf der Mauer auf der Lauer, wie man es so schön sagte, und beobachtete die Bewohner der Residenz, die in einiger Entfernung seines Dorfes hier oben an der Steilküste des Loch na Lerig stand. In seine Königin in Gelb verliebte er sich spätestens an diesem Tag hoffnungslos und für immer. Sie war der Sinn seines Lebens. So viel stand fest.
Der Pub Drunken Mermaid zog an ihm vorbei, während die Kutsche sich die Anhöhe hinaufarbeitete. Das Holz ächzte, das Geschirr der Pferde klirrte, denn es war keine gewöhnliche Kutsche, sondern eine, die es ihren Gästen auf der womöglich letzten Fahrt so angenehm wie eben möglich machte. Die Wände strahlten in rotem Samt mit goldenen Mustern, es gab ein Fach, in dem der Champagner gekühlt wurde und ein weiteres, das edle Gaumenfreuden enthielt. Es gab federleichte Daunendecken, die für Wärme sorgten, denn die alten Herrschaften froren schnell. Die Residenz verließen die meisten Bewohner im Sarg, daher sollte ihnen die Anreise wenigstens Freude bereiten. Und er freute sich wirklich, ganz besonders auf seine Königin in Gelb, die er in all der Zeit, bis die Aufnahme endlich geregelt gewesen war, weiter beobachtet hatte. Und er glaubte, sie hatte seine Anwesenheit gespürt. Manches Mal hatte sie ihren Hals gereckt und in den Himmel geschaut, sich umgesehen und er hatte sich unter ihren Blicken in seinem Versteck noch kleiner zusammengerollt, als er es eh schon war, bis sie wieder ihrer Tätigkeit nachging. Meistens jedoch irgendwie trauriger und bedrückter als zuvor, wie es ihm schien. Das ließ sein altes, verliebtes Herz nur noch doller für seine Liebe pochen. Die Kutsche hielt, die Tür wurde geöffnet und er durfte aussteigen. Doktor Renato Lazarus, der Chefarzt der Residenz, erwartete ihn schon unter einem Regenschirm stehend draußen vor dem Tor des Gebäudes, eine Eigenart, die er bei jedem Neuankömmling pflegte, wie er später noch oft beobachten konnte.
»Herzlich willkommen in der Residenz, mein lieber Argyle Findlay. Haben Sie viel Gepäck mitgebracht?« Der Alte antwortete nicht, wandte sich aber auch nicht ab, sondern sah dem Chefarzt mit offenem Blick entgegen und trat selbstbewusst unter den Schirm des Arztes, um nicht nass zu werden. Er zückte stattdessen ein kleines in Leder gebundenes Büchlein hervor und notierte sich etwas mit einem Bleistift.
»Der redet nicht, der schreibt nur!«, schallte es vom Kutschbock herab, der Kutscher stieg ab, umrundete die Kutsche und stellte das Gepäck heraus. Doktor Lazarus nickte nur.
»Danke«, wandte er sich an den Kutscher und dann wieder an den alten Mann. »Dort steht Schwester Brianna, sie wird Sie in Ihr Zimmer bringen, und das ist Hausmeister Morgan, er wird so freundlich sein und Ihr Gepäck tragen.« Der Greis nickte beiden zu und lächelt. Brianna erwidert es, Morgan tippte sich mit dem Zeigefinger an den Schirm einer Mütze, die er nicht auf dem Kopf trug. Diese Geste in diesem Umfeld machte ihn für den Senior sofort sympathisch. Der Kutscher bemühte sich, wieder auf den Kutschbock zu steigen, um abzufahren, die Entourage war im Begriff, das altehrwürdige Gebäude zu betreten, als Argyle, wie er jetzt noch genannt wurde, seiner Königin gewahr wurde. Sie stand an einem Fenster im zweiten Geschoss hinter einer weißen, halb durchsichtigen Gardine und kaum, dass er den Blick hob, verschwand sie auch wieder aus seiner Sicht. Er hatte winken wollen, unterdrückte diesen Impuls aber sofort. Und er spürte selbst hier unten ihre Melancholie, die wie ein feines Gespinst auf ihn einwirkte.
»Das ist Kassandra«, sagte Doktor Lazarus, der diesen ersten Blickkontakt bemerkt hatte. »Sie hat allen Grund, traurig zu sein. Es ist besser, Sie halten sich von ihr fern.« Er sagte nichts und nickte dieses Mal auch nicht. Auf Geheiß des Chefarztes betraten sie die Residenz. So begann also sein erster Tag als Bewohner der Residenz.
»Sie möchten also Ihren Namen ändern, richtig?«, fragte Doktor Lazarus angesichts des schriftlich formulierten Wunschs des Alten, der vor ihm in seinem Büro saß. Draußen, so konnte man von hier aus zwei großen Fenstern mit Blick auf den See beobachten, rangen Regen und Sonnenschein um die Vorherrschaft des Tages und es sah wieder einmal so aus, als würde der Regen obsiegen. Der Greis legte sein Notizbuch auf dem Schreibtisch ab und nickte. Doktor Lazarus Blick haftete auf dem Buch. Ihm fiel auf, dass der Ledereinband eine Nuance heller war, als er ihn in Erinnerung hatte.
»Sie schreiben viel, oder?«
Nicken.
»Ist das schon Ihr zweites Buch?«
Nicken.
»Sie können sprechen, oder?«
Nicken.
»Aber Sie wollen nicht?«
Kopfschütteln.
Nicken.
Schwierig formuliert, dachte sich Doktor Lazarus.
»Ich rede nicht gerne, sondern beobachte lieber«, antwortete der Senior und überraschte damit Doktor Lazarus, der schon von einem traumatischen Erlebnis in der Vergangenheit des Mannes ausgegangen war, das diesem die Stimme geraubt hatte und seine Lust daran, sich der Welt mitzuteilen.
»Mhm«, antwortete Doktor Lazarus und schien enttäuscht von seinem neuen Patienten. Er war so … unspektakulär bisher. Seine ersten Elektroversuche und Hypnosen an und mit ihm zeigten nicht die Anzeichen einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung. Zwar gab sich der Alte oft so, als wäre er desorientiert, verwirrt, autoaggressiv, aber die tiefer gehenden Untersuchungen zeigten ihm jedes Mal eine ausgesprochene Reife und Klarheit bei diesem Bewohner. Doktor Lazarus griff nach einer Haselnuss in der marmornen Schüssel vor sich und öffnete sie mit dem Nussknacker, ohne dabei den Mann aus den Augen zu lassen. Dieser reagierte nicht auf sein Starren, saß ruhig und gelassen vor ihm. Er erinnerte Doktor Lazarus irgendwie an eine faule Nuss mit brüchiger Schale … »Nun gut, Sie können also reden, ziehen es aber vor, es nicht zu tun. Das ist nichts Ungewöhnliches. Ebenso wenig ungewöhnlich wie die ersten Testreihen, die wir hinter uns haben.« Er zog zwei Patientenbücher zu sich heran, schlug sie auf und überflog zur Sicherheit noch einige Ergebnisse, sah dann wieder zu dem Greis und faltete den Brief auseinander, den er von ihm bekommen hatte.
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