1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Kiljan ignorierte ihn. »Ich muss sichergehen, dass du unser Vertrauen nicht hintergehst«, sagte er schlicht.
»Das kann ich euch wohl kaum beweisen, da ihr mir sowieso kein Wort glaubt. Wenn das Gastrecht hier keine Gültigkeit besitzt, dann sag es und ich gehe«, erwiderte ich, nach außen Gelassenheit ausstrahlend, innerlich aber spannte ich mich an. Es war nicht fair, das Gastrecht ins Gespräch zu bringen, denn es verpflichtete ihn, mich aufzunehmen. Doch er ließ mir kaum eine andere Wahl, und ich versuchte so zu tun, als wäre es mir tatsächlich gleichgültig.
»Sie hat Jul das Leben gerettet«, warf Dave ein. »Wir würden sie sofort bei uns aufnehmen, aber die nächsten zwei Wochen können wir dieser Pflicht nicht nachkommen, das weißt du.« Schweigend blickte Dave Kiljans an.
Erneut runzelte ich die Stirn. »Warum das?«, fragte ich und musste meine Verwirrung nicht einmal spielen.
»Jul hat seine zehnte Lebensbahn erreicht und die Zeremonie findet bald statt. Das heißt, wir werden nicht hier sein.« Ich nickte, denn ich erinnerte mich noch, dass dieses Ritual ein großes Ereignis war. Sie feierten den Eintritt in den sogenannten zweiten Lebensabschnitt – vom Kleinen zum Halbstarken – an einem heiligen Ort und fast alle Erwachsenen des eigenen Clans nahmen daran teil.
Plötzlich öffnete sich die Tür und Jul stürzte herein. »Sam. Ich lade dich hiermit zu meinem Fest ein. Wenn wir wieder zurück sind, hat mein Vater mir versprochen, dass ich ein zweites Fest bekomme, zu dem ich jeden einladen darf, den ich möchte. Ich will, dass du dabei bist. Kommst du?«, plapperte er ganz aufgeregt und bemerkte die betretenen Mienen der anderen gar nicht.
»Ich weiß nicht, ob ich dann noch hier bin«, antwortete ich und blickte in sein bestürztes Gesicht.
»Aber du musst. Du hast mir das Leben gerettet. Sam, bitte. Kannst du nicht wenigstens so lange bleiben?« Er klang verzweifelt, sah erst zu seinem Vater und danach zu Kiljan. »Sie darf hierbleiben, oder nicht? Das sind wir ihr doch schuldig.«
Seufzend fuhr sich Kiljan durch sein Haar, sichtlich ratlos. »Ja, Jul. Wir sind es ihr schuldig. Du hast recht und natürlich darf sie bleiben«, entgegnete er, fast schon resigniert.
»Yippie!«, rief Jul und hüpfte in meine Arme. Ich fing ihn auf und taumelte stöhnend einige Schritte rückwärts.
»Jul«, schimpfte Kiljan, sprang vor und hielt mich plötzlich fest.
Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und erneut kämpfte ich gegen eine nahende Ohnmacht. Vor Schreck wandelte Jul sich wieder in ein Wolfsjunges. »Danke«, stieß ich keuchend hervor, noch immer gegen den Schmerz kämpfend. Dennoch machte ich mich los. Vorsichtig lehnte ich mich an das Bett und atmete bewusst ein und aus. Als die Schmerzwelle langsam verebbte, blickte ich auf und begegnete seinem durchdringenden Blick. »Es geht schon.« Genervt drehte ich mich um und unterdrückte krampfhaft die Bilder, die unablässig an die Oberfläche drängten.
»Komm, Sam braucht ein wenig Ruhe. Du kannst später noch einmal nach ihr sehen.« Er nahm ihn mir aus dem Arm und wandte sich ab. Gemeinsam begaben sie sich zur Tür, nur der stumme Begleiter verharrte nach wie vor an Ort und Stelle und betrachtete mich.
»Du heißt Sam?« Seine Stimme klang eindeutig misstrauisch und Kiljan stockte mitten in der Bewegung.
Ich hielt dem bohrenden Blick stand und nickte. »Und du?« Sämtliche Instinkte warnten mich. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck ließ mich wachsam innehalten.
»Mael«, antwortete er schlicht. Der Schock, als er seinen Namen nannte, fuhr mir heiß durch den Körper. Stumm betete ich zu allen Geistern und Ahnen, dass niemand meine Überraschung bemerkt hatte. »Kennen wir uns?«, schob er plötzlich hinterher.
Ich erwiderte seinen Blick, hoffentlich überzeugend genug, überaus irritiert. »Nein, sollten wir?« Unbewusst hielt ich den Atem an, bis er zögernd den Kopf schüttelte und sich schließlich abwandte.
Gemeinsam verließen sie das Zimmer und ich atmete erleichtert mehrmals tief durch. Leise fluchend zog ich meine Stiefel aus. Verdammt. Das hatte ich mir alles irgendwie viel einfacher vorgestellt. Ich hatte das Misstrauen eindeutig unterschätzt und musste mir nun eingestehen, dass ich zu sehr auf meine Rache fixiert gewesen war, statt mir ernsthafte Gedanken über einen vernünftigen Plan zu machen.
Das sieht mir gar nicht ähnlich.
Ich sank auf das Bett und schloss die Augen, konnte endlich meine Schmerzen zulassen und atmete zitternd ein und aus. Nun jedoch fluteten mich Bilder aus meinen Erinnerungen, und ich besaß nicht länger die Kraft, sie zurückzudrängen.
Die Sonne steht noch nicht hoch am Himmel, die meisten schlafen noch, doch ich laufe Kiljan hinterher.
»Komm schon, kleine Talil, beeil dich«, drängt er.
»Rian kommt aber gar nicht nach, wir sind viel zu schnell«, rufe ich zurück, laufe aber dennoch schneller und schließe zu ihm auf.
»Ich habe ihn nicht darum gebeten, uns zu begleiten. Ich möchte dir etwas zeigen.« Er läuft noch schneller, weiß, dass er mich damit nicht abschütteln kann. Rian jedoch wird zurückbleiben.
»Wir haben ihn schon gestern nicht mitgenommen«, sage ich. »Wir werden Ärger bekommen.«
Kiljan aber lässt sich nicht einschüchtern. »Mir egal.«
Schweigend laufen wir weiter und insgeheim genieße ich es, mit ihm allein zu sein. Doch das würde ich ihm niemals erzählen, denn er ist auch so schon eingebildet genug.
Plötzlich stocke ich und auch Kiljan wird langsamer. »Wir dürfen nicht ohne einen Erwachsenen an die Klippen«, sage ich und schaue mich um.
»Ich weiß«, antwortet er nur und grinst. Er nimmt meine Hand und zieht mich mit sich an den Klippenrand, während sich unsere Finger wie von allein ineinander verschränken. »Siehst du dahinten die Insel? Sie ist in Wirklichkeit viel, viel größer, auch wenn sie von hier aus so klein wirkt. Sie gehört mir, ich bekam sie von meiner Mutter geschenkt. Doch sobald du die Lebensbahn der Erwachsenen erreichst und eingewilligt hast, meine Gefährtin zu sein, schenke ich sie dir.« Er sieht zu der Insel, doch ich blicke zu ihm auf.
»Und wenn ich gar nicht deine Gefährtin sein möchte?«, frage ich lachend, aber er betrachtet mich plötzlich vollkommen ernst.
»Du wirst meine Gefährtin sein, kleine Talil, ich weiß es ganz bestimmt. Und dann bekommst du diese Insel von mir geschenkt, damit du sie, wie meine Ahnen, an unsere Tochter weitergeben kannst.« Ich runzle die Stirn, nicht sicher, ob ich wütend auf ihn bin, weil er ständig solche Sachen sagt.
»Da seid ihr ja«, ruft Rian, und ich befreie hastig meine Hand. Verärgert presst Kiljan die Lippen aufeinander, doch Rian scheint es gar nicht zu bemerken.
»Was machen wir jetzt?«, fragt er und sieht uns freudestrahlend an.
Ich mochte Rian damals unheimlich gern. Kiljan aber verfügte nur über sehr wenig freie Zeit, weil sein Vater ihn ständig zwang, zusätzlichen Unterricht bei einem Privatlehrer zu nehmen. Kiljan nutzte jede Möglichkeit, die wenigen Momente mit mir allein zu verbringen und schloss Rian immer mal wieder aus. Ich schüttelte den Kopf.
Mael, der große Bruder von Rian.
Ich ärgerte mich über mich selbst, darüber, dass ich ihn nicht erkannt hatte.
Auch ein Fehler.
Ich war mir zu sicher gewesen, dass ich alle wiedererkennen würde. Doch nun musste ich mir eingestehen, dass sechzehn Jahre anscheinend ein zu langer Zeitraum war.
Erinnere ich mich deswegen einfach nicht mehr an das Gesicht, das ich so verzweifelt suche?
Grübelnd übermannte mich schließlich der Schlaf.
Kiljan
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