Stockend wich ich zwei Schritte rückwärts, bis ich den Stamm der Eiche in meinem Rücken spürte, und versuchte krampfhaft, auf den Beinen zu bleiben.
Plötzlich liefen an die zehn kleinen Dunkelelben auf mich zu, bis auf Leif alle in Wolfsgestalt gewandelt und stellten sich um mich herum. Irritiert betrachtete ich sie, ebenso wie Kiljan und seine Hüter.
»Leif«, zischte Mael. »Kommt da sofort weg!«, forderte er, sein ganzes Auftreten wirkte hasserfüllt. Noch immer hielt ich das Messer in der erhobenen Hand und erwiderte seinen Blick.
»Ihr seid so dumm«, rief Leif. »Ihr habt sie eingesperrt, wie ein Tier. Sie hat Jul das Leben gerettet und wie danken wir es ihr? Ihr lasst zu, dass Cadan sie bedroht und schlägt, und sie weiß, dass niemand ihr helfen wird. Ihr dürft sie niemals einsperren, das hat Jul mir gesagt. Er hat versprochen, sich von ihr zu verabschieden, doch sie ließen ihn nicht einmal zu ihr. Ist das unsere Gastfreundschaft? Sie würde uns niemals etwas antun und wir gehen hier nicht weg.«
Erstaunt sah ich ihn an und fuhr mir verzweifelt durch die Haare. Zögernd begegnete ich Kiljans Blick, deutete auf mein Messer und warf es vorsichtig zur Seite, außerhalb der Reichweite der Kleinen. Schließlich gab ich dem Drang nach, und glitt langsam an dem Stamm hinab. Meine vollkommen kraftlosen Beine trugen mich nicht mehr länger.
»Leif, ihr alle kommt sofort zu uns«, rief Mael immer aufgebrachter, doch der schüttelte nur den Kopf.
»Aber sie gehört doch hierher, das hat Jul mir gesagt. Du bist nur mein Bruder und hast mir gar nichts zu befehlen.«
Kiljan
Plötzlich sackte ihr Körper zur Seite und sie regte sich nicht mehr. Die Kleinen schmiegten sich an sie, und als ich mich näherte, knurrten sie allesamt. Abrupt blieb ich stehen. Was hat das alles zu bedeuten? Mael trat neben mich und betrachtete die Szene ebenso verwundert wie ich.
»Hat jemand Cadan gesehen?« Es folgte keine Antwort. »Bringt in Erfahrung, mit wem zusammen er ihr Zimmer betreten hat und schafft sie hierher.«
Ich fuhr mir über mein Gesicht und seufzte. »Und niemand rührt sie an. Niemand«, rief ich laut in die Runde. »Was soll das alles?«, fragte ich Mael leise, obwohl er genauso ratlos wirkte wie ich.
»Was meint Jul damit, dass sie hierhergehört? «, wiederholte Mael die Worte seines kleinen Bruders.
»Warum sind die Kleinen alle auf ihrer Seite und verteidigen sie, wo sie doch eine vollkommen Fremde ist? Und wieso wirft sie freiwillig einfach ihre einzige Waffe fort? Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn.« Stumm betrachteten wir die äußerst ungewöhnlich wachsamen Kleinen.
»Woher weißt du, dass Cadan nicht allein bei ihr war?« Sein Blick ruhte noch immer auf Sam.
»Cadan ist aggressiv, aber feige. Er würde sich nicht allein zu ihr trauen.«
Plötzlich entstand ein Tumult. Wir wandten den Blick von ihr ab. Cadan und Issy wurden nach vorn gezerrt, doch Issy machte sich wütend los. »Ich habe Cadan begleitet, um Schlimmeres zu verhindern. Nachdem er sich auf sie stürzte, zerrte ich ihn sofort raus. Du weißt, dass er in jedem Fall zu ihr gegangen wäre.« Ich nickte, wusste ich doch, dass er recht hatte.
»Du übernimmst eine Woche zusätzlich Nachtwache«, entschied ich schlicht. »Cadan, dein Verhalten ist unangemessen und unverantwortlich. Ich habe dir die Verbannung angedroht, dies jedoch hat keine Gültigkeit mehr. Du wirst bis zur Rückkehr eurer Ältesten unter Arrest gestellt, und ich berate gemeinsam mit ihnen, wie wir mit dir weiter verfahren. Ich bin dafür, dass du für ein Jahr in die Berge von Tari gehst, um endlich erwachsen zu werden. Bringt ihn weg.« Bei meinen Worten zuckte er zusammen, doch ich war mir inzwischen sicher, dass er dringend lernen musste, was wirklich zählte im Leben.
»Was ist passiert?«, fragten Umi und Nevan gleichzeitig, als sie auf die Lichtung traten. Nachdem ich ihnen erzählte, was sich zugetragen hatte, wechselten sie einen langen Blick. Zwar blieben sie stumm, doch es schien, als tauschten sie heimlich in Gedanken Worte miteinander. Schließlich nickte Nevan, und Umi betrachtete mich. Ihr endlos trauriger Blick ließ mich frösteln.
»Wir müssen mit euch beiden sprechen, allein.« Sie klang ungewöhnlich ernst.
»Ich benötige vier Hüter auf der Lichtung als Wache. Dougal, Gin«, ordnete ich an, als Issy auf mich zutrat.
»Ich stelle mich zur Verfügung«, entgegnete er entschlossen. Mit einem Nicken stimmte ich zu.
»Ich schließe mich ihnen nach unserem Gespräch an«, verkündete Mael ebenfalls bestimmend.
Verwundert betrachtete ich ihn. »Wieso?« Als mein Stellvertreter besaß er keinerlei Verpflichtung, einen Wachdienst zu übernehmen.
»Nenn es Gefühl.« Er zuckte mit den Schultern.
»Also gut, Dougal, Gin, Issy und Mael werden hier wachen. Alle anderen haben auf der Lichtung ab sofort nichts mehr zu suchen. Und niemand nähert sich ihr«, wies ich an und wartete, dass sie ihr Verstehen signalisierten.
Wir gingen in mein Arbeitszimmer und setzten uns. Abwartend sah ich von Umi zu Nevan, bis dieser schließlich das Wort ergriff. »Ich prahlte ihr gegenüber noch, dass ich großen Wert auf mein Gelöbnis lege und nun tue ich genau das, was sie mir unterstellte.« Ernsthaft betroffen schüttelte er den Kopf. Sein Verhalten irritierte mich. »Ich kann dir nicht sagen, wer sie ist, oder woher sie kommt, nur dass sie wirklich Schlimmes erlebt haben muss, das weiß ich ganz sicher.« Er blickte erneut zu Umi, die aufmunternd nickte.
»Ihr Rücken ist übersät mit unzähligen Narben und ich sah noch nicht einmal ihre gesamte Kehrseite. Sie weigerte sich, ihren Oberkörper zu entkleiden. Erst war ich verärgert, doch als sie mir dieses Stückchen Haut offenbarte, lief es mir eiskalt den Rücken hinab.« Sein Blick wirkte vollkommen gequält.
»Woher stammen sie?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie natürlich gefragt, aber sie gab mir sehr deutlich zu verstehen, dass sie mir nicht vertraut, womit sie ja nun auch wirklich recht hat. Verdammt.« Beschwichtigend legte Umi eine Hand auf seinen Arm. Er holte tief Luft. »Sie meinte, wenn es darauf ankommt, wäre ich ihr gegenüber sicherlich nicht loyal, Schwur hin oder her und sie hat recht.« Müde fuhr er sich über sein Gesicht. »Sie erklärte mir, dass sie ausschließlich allein in der Wildnis unterwegs ist und da würde man sich eben hin und wieder eine Verletzung zuziehen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber solche Narben? Niemals.« Schweigend betrachtete er seine Hände. Ich war erschüttert, denn so hatte ich den resoluten Heiler noch niemals zuvor erlebt.
»Auch ich konnte einen Blick auf ihre Narben werfen. Um sie zu behandeln, wollte ich natürlich ihre Kleidung entfernen. Als ich ihr Oberteil anhob, stockte ich jedoch. Ihre gesamte Vorderseite ist ebenfalls mit unzähligen Narben übersät. Also ließ ich ihr die Kleidung an, um sie nicht zu beschämen. Ich vermute, dass auch der Rest ihres Körpers nicht anders aussieht.« Sie seufzte. »Ich habe solche Wunden noch nie gesehen.«
Auffordernd blickte sie zu Nevan, der sichtbar ein weiteres Stück in sich zusammensackte. »Ich befürchte, dass sie gefoltert wurde. Brennende Zigaretten und Verletzungen durch eine Peitsche. Ich wünschte, ich würde mich irren, aber die Narben, die ich sah, stammen unter anderem von einer neunschwänzigen Katze, wie die Menschen sie nutzen.« Er schüttelte sich und wurde noch blasser, nur durch die Erinnerung.
»Einiges sieht jedoch auch aus wie von einem Brandeisen verursacht, dazu kommen unzählige Schnittwunden.« Als er den Blick hob, standen ihm unverkennbar Tränen in den Augen. »Ich kann mir nicht vorstellen, was sie erlebt haben muss, doch es würde erklären, weshalb sie so außer Kontrolle geriet, nachdem Cadan sie einschloss.«
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