Auf diese Zeilen reagierte Wilm Hosenfeld am10. November 1939. Er nahm an, dass sie den Brief unter dem Eindruck einer Rede Hitlers geschrieben hatte. Die Ansprache habe ihn ebenfalls erschüttert, erwiderte er. Ich habe nur kurze Zeit zugehört, entnehme ihr aber, dass der Führer den Krieg will. Die Aussicht auf Frieden entschwindet immer mehr, das Unheil nimmt seinen Fortgang.
Am 17. November 1939 erhielt Annemarie Hosenfeld Besuch von einem Unteroffizier, der zum Kreis von Kameraden ihres Mannes gehörte. Sie freute sich darauf, durch ihn etwas Neues aus Polen zu erfahren, und wurde bitter enttäuscht. Denn der Soldat schwärmte von Hitler und dem Nationalsozialismus und erteilte ihr weltanschauliche Unterweisungen , die sie voller Empörung zurückwies. Die unerfreuliche Begegnung nahm sie zum Anlass, ihre Einstellung zum NS-Regime unmissverständlich darzulegen. Dass der Unteroffizier Hitler geradezu angehimmelt habe, fand sie unerträglich, und sie fragte ihren Mann, ob er etwa auch so denke: Dann werden wir uns trotz aller Liebe nicht verstehen können. Hast Du Vertrauen zu dieser Führung? Erneut warf sie ihm vor, unbedingt Offizier werden zu wollen. Als Feldwebel sei er ihr aber hundertmal lieber denn als Leutnant. Diesen Ehrgeiz solle er lieber den aktiven jungen Soldaten überlassen. Deine Lebensaufgabe ist eine andere.
An seiner Haltung gegenüber der Wehrmacht und der NS-Politik übte sie heftige Kritik. Warum beteuern Deine Kameraden immer wieder, dass Du so brennend gern Soldat bist? Ist Dir das wirklich genug, einen kurzen Urlaub hier zu sein, um wieder gern in Polen Soldat zu werden? Wilm, ich kann das nicht glauben, ich will es nicht glauben! Dann denke ich, wie fanatisch Du Dich für die SA einsetztest. Du musstest Soldat spielen. Du musstest nur Kriegsbücher lesen. Du meldetest Dich heimlich zur Übung als Reserveoffizier. Drei oder noch mehr Jahre Trennung, das sei schwer zu ertragen. Unter diesen Umständen sei sie nicht die richtige Frau für ihn, erklärte sie und fügte hinzu: Ich halte diesen Krieg für sinnlos. Jede Regierung, die nicht versteht, ihrem Volk Frieden zu sichern, taugt nichts, denn das Volk will Frieden.
Annemarie Hosenfeld unternahm alles, um zu verhindern, dass ihr Sohn Helmut gleich nach dem Arbeitsdienst ebenfalls eingezogen wurde. Sie verschaffte ihm zum Wintersemester 1939 einen Studienplatz an der Universität Göttingen. Helmut Hosenfeld studierte Medizin und wurde nach dem Krieg Kinderarzt. Allerdings konnte die Mutter ihn nur vorübergehend vor dem Militärdienst bewahren, denn sie wusste, dass er auch als Student jeweils zwei Mal für eine bestimmte Zeit eingezogen würde.
Helmut Hosenfeld machte mit seiner Berufswahl gewissermaßen den Anfang. Denn alle fünf Kinder von Annemarie und Wilm Hosenfeld haben medizinische Berufe ergriffen, was vermutlich damit zusammenhängt, dass sie früh und unter den besonderen Erfordernissen von Krieg und Nachkriegszeit lernen mussten, füreinander und für andere einzustehen.
Wilm Hosenfeld nahm zu den Vorwürfen seiner Frau durchaus Stellung. Sie mache sich zu viele Sorgen, erwiderte er. Als Soldat tue er nicht mehr, als von ihm verlangt werde. Was er in seinem Inneren denke, das solle keiner wissen. Ich sage Dir nur das eine, ich habe mich manchmal geschämt, deutscher Soldat zu sein. Im Brief könne er nichts von seinen Gedanken mitteilen. Sie kenne ihn doch. Er sei in allen Fragen eins mit ihr. Tatsächlich änderte sich seine Haltung, und zwar unter dem Druck der Ereignisse in seiner unmittelbaren Umgebung. Im Pabianice betätigte Hosenfeld sich weiter als Wohltäter und Menschenfreund. Als aus Thalau ein Paket eintraf, teilte er den Inhalt, u.a. Äpfel und Nüsse, mit drei polnischen Kriegsgefangenen, die als Ärzte bzw. Hilfsärzte im Krankenrevier tätig waren. Er ließ sich berichten, wie sie unter dem Krieg gelitten hatten, welche ihrer Angehörigen vermisst oder umgekommen waren.
Beim Ortskommandanten von Pabianice konnte Hosenfeld die Freilassung weiterer polnischer Kriegsgefangener durchsetzen. Eine Frau, die ihren Mann und zwei Söhne in Empfang nehmen durfte, drückte ihm als Zeichen ihrer Dankbarkeit einen Zwanzig-Złoty-Schein in die Hand, den er sofort zurückgab mit der Bitte, sie solle eine Messe für ihn lesen lassen. Eine andere Frau griff zu ihrem Parfümfläschchen und sprühte ihn damit ein, ohne dass Hosenfeld sich wehren konnte; sie wollte sich ja nur bedanken. Noch Tage später roch er den Duft.
Ende Oktober 1939 war das Kriegsgefangenenlager in Pabianice bereits wieder aufgelöst worden. Alles hatte ganz schnell gehen müssen. Die Gefangenen marschierten in Kolonnen zum Bahnhof, wo Züge bereitstanden, um sie nach Deutschland zu bringen. Die Wehrmacht brauchte für den bevorstehenden Westfeldzug zusätzliche Soldaten. Somit fehlten Arbeitskräfte in Industrie und Landwirtschaft. Polnische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter mussten die Lücken füllen, wobei polnische Offiziere weiter interniert wurden.
Für Feldwebel Hosenfeld und seine Kameraden begann eine Zeit der Ungewissheit. Die Kommandos wechselten. Zunächst erhielten sie den Auftrag, in einem Waldgebiet etwa 30 Kilometer von Pabianice entfernt gegen Wild- und Holzdiebe vorzugehen. Auf dem Weg dorthin staunte Hosenfeld über die Hilfsbereitschaft der Polen, als ihr Fahrzeug bis an die Achsen im Morast versank und ein Bauer es mit seinem Pferdegespann aus dem Dreck zog.
Bei einem Zwischenstopp in einem Dorf strömten plötzlich Kinder, die gerade aus der Schule kamen, auf die deutschen Soldaten zu. Es kam mir doch sonderbar vor, als ich plötzlich inmitten der lachenden, frohen Kinderschar stand, die uns neugierig und gar nicht schüchtern umstanden und auf uns losplauderten, als müssten wir alles verstehen. Situationen wie diese bewogen ihn, sich ein Wörterbuch schicken zu lassen und Polnisch zu lernen.
Während seine Kameraden in einem Forsthaus unterkamen, kehrte Wilm Hosenfeld nach Pabianice zurück. Seit der Auflösung des Gefangenenlagers stand er nicht mehr ständig unter Zeitdruck. Er nahm sich noch mehr Zeit für die Briefe und Aufzeichnungen. Zum Einkaufen fuhr er mit der Straßenbahn nach Łódź und knüpfte neue Kontakte zur Bevölkerung. Dabei lernte er eine Polin kennen, die sich hilfesuchend an ihn gewandt hatte, da ihr Mann kurz zuvor von der Gestapo verhaftet worden war.
Bei seinen Bemühungen, der Frau zu helfen, erfuhr er, dass es sich keineswegs um einen Einzelfall handelte. Vielmehr fand nach vorbereiteten Fahndungslisten landesweit eine Welle von Verhaftungen statt. Volksdeutsche denunzierten Polen bei der deutschen Geheimpolizei, um sich für angebliches Unrecht zu rächen. Außerdem – was geradezu ungeheuerlich war – gingen SD und Einsatzgruppen massiv und systematisch gegen die polnische intellektuelle Oberschicht vor. Am 10. November 1939 berichtete Hosenfeld seiner Frau: Eine ohnmächtige Wut, ein lähmender Schrecken zieht von Haus zu Haus, in denen ein Pole wohnt, der über dem Durchschnitt steht. Es geht gar nicht um Vergeltung, es hat den Anschein, als ob man die Intelligenz ausrotten will …
Hosenfeld erlebte die erste Terrorwelle des deutschen Vernichtungsfeldzuges in Polen und war fassungslos, obwohl ihm das ganze Ausmaß mit Tausenden von Toten gar nicht bekannt war. Wie gern bin ich Soldat gewesen, aber heute möchte ich den grauen Rock in Fetzen reißen. Wir sollen den Schild halten, hinter dem diese Verbrechen an der Menschheit geschehen können? Mit »Schild« meinte er die Wehrmacht, die er für unschuldig hielt – ein Irrtum, wie er später feststellen musste.
Der Krieg gegen Polen war zwar zu Ende, aber die Spur der Gewalt, Zerstörung und Vernichtung wurde immer breiter. Am 16. November 1939 notierte er in Pabianice: Seitdem ich die Schandtaten der SS gesehen habe, ist es für mich gewiss, dass wir diesen Krieg nicht gewinnen dürfen und auch nicht können, denn uns fehlt die sittliche Kraft dazu. Wenn der Geist der brutalen Gewalt triumphiert, wird er im Innern des Reiches alle Gegenkräfte vernichten. Alle Gräuel, die in den Kellern der GPU (sowjetische Geheimpolizei) in Russland spielten, kehren bei uns nun ein.
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