2. Aufbau eines Kriegsgefangenenlagers in Polen
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges geriet Polen in eine Zangenbewegung, aus der es für das Land kein Entkommen gab. Vom Westen stürmten am 1. September 1939 Divisionen der deutschen Wehrmacht, unterstützt von Marine und Luftwaffe, gegen das Land. Im Osten rückte die Rote Armee der Sowjetunion vor und besetzte Ostpolen. Im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 hatten beide Staaten ihre Interessengebiete in Ostmitteleuropa und im Baltikum abgesteckt. Josef Stalin war zum Verbündeten und Komplizen Adolf Hitlers geworden, der damit freie Hand für seine Eroberungspolitik bekommen hatte. Zwei Diktatoren trieben ein abgekartetes Spiel. Ihr erstes Opfer war Polen.
Leichten Herzens hat Hosenfeld die Uniform der Wehrmacht nicht wieder angezogen, wenngleich ihn stets ein heimlicher Wunsch verfolgte, der durch sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Militärdienst Anfang 1918 nicht in Erfüllung gegangen war: Er wollte Offizier werden.
In Thalau, dem kleinen Dorf in der Rhön, wo er immerhin zwölf Jahre Leiter der Dorfschule gewesen war, ließ er im Herbst 1939 seine Frau und fünf Kinder zurück. Das heißt, sein ältester Sohn Helmut leistete inzwischen in Kirtorf im hessischen Vogelbergkreis den Reichsarbeitsdienst ab, den »Ehrendienst am deutschen Volke«, der für alle 18- bis 25-Jährigen Pflicht war.
Der Abschied auf dem Bahnhof in Fulda war allen schwergefallen. Wilm Hosenfeld hatte vorher nicht nur in der Schule alles geregelt, sondern weitgehend auch in der Familie. Wie selbstverständlich hatte Annemarie Hosenfeld sich seiner ordnenden Hand gefügt, die anstehenden Entscheidungen zwar mit ihm besprochen, sie aber letztlich doch ihm überlassen. Als der Zug abfuhr, ging ich mit meinen drei schluchzenden Kindern durch die dunkle Stadt, schrieb sie am 10. September 1939 an ihren Mann. Im verdunkelten Zug fuhren wir heimwärts, schutzlos und verlassen von jetzt ab. – Jorinde schlief in meinem Schoß, meine Seele war bei Dir, und ich betete um Kraft für mich. Hand in Hand ging ich mit meinen Kindern heimwärts, und als ihr tiefer Kinderschmerz, ihr Weinen leise wurde, fand ich Trost für uns.
Annemarie Hosenfeld versuchte, sich abzulenken und sich auf ihr neues Leben zu besinnen, aber das fiel ihr schwer. Denn wer sollte die Lücke schließen, die ihr Mann hinterließ? Jeder Raum unseres Hauses, jeder Weg im Garten, jeder Baum, jede Blume, sie sprechen von Dir, von Deiner Güte zu uns. Nie sah ich einen stolzeren, edleren und süßeren Mann, und darum bin ich glücklich auch im Leid.
Kaum hatte sie ihren Brief beendet, hörte sie am Radio von Luftangriffen auf Warschau. Sie wusste, dass Wilm Hosenfeld in Richtung Osten abgereist war, aber seinen Aufenthaltsort kannte sie nicht. Und ihre gerade zurückgewonnene Zuversicht war wieder dahin. Zu allem Unglück erreichten sie aus ihrem Heimatort Worpswede schlechte Nachrichten. Ihre Mutter hatte einen zweiten Schlaganfall erlitten und lag in einem Bremer Hospiz im Sterben. Einige Tage zögerte Annemarie Hosenfeld, aber dann folgte sie der dringenden Bitte ihres Vaters und machte sich auf den Weg nach Norddeutschland.
Der Anblick ihrer Mutter erschütterte sie zutiefst: das Gesicht entstellt, der Körper im Todeskampf. Mit ihrer Schwester Gertrud wechselte sie sich am Krankenbett ab. Kurz vor ihrem Tod erlangte die Mutter noch einmal das Bewusstsein zurück und erkannte die Umstehenden. Damit war es ein friedlicher Abschied.
In Bremen sah Annemarie Hosenfeld bereits deutliche Spuren des Krieges. Grünanlagen und öffentliche Plätze waren von Laufgräben durchzogen. Bevor sie nach Thalau zurückkehrte, besuchte sie in der Hansestadt die Kirche St. Johannis, wo 19 Jahre zuvor ihre Trauung stattgefunden hatte. Ihrem Mann schrieb sie am 23. September 1939: Du wirst Dir denken können, wie mich das bewegt hat. Aber es gab mir Trost. Ich muss leben und gesund sein. Wie die nächsten Tage aussehen, weiß niemand. Mich drängt es heimzufahren. Die Liebe zu Dir und den Kindern hält mich. Wilm, bete für den Frieden, bete für uns.
Von Frieden konnte allerdings keine Rede mehr sein. Mit einer gewaltigen Streitmacht überrollte die deutsche Wehrmacht das Nachbarland. Trotz tapferer Gegenwehr musste Polen sich innerhalb weniger Wochen geschlagen geben. Eines der größten Probleme war schon während der Kampfhandlungen die Unterbringung der vielen Kriegsgefangenen – eine Aufgabe, der sich auch der Feldwebel Wilm Hosenfeld widmen sollte. Die letzten 100 Kilometer bis zu seinem Bestimmungsort Pabianice südlich der Industriestadt Łódź legte das Vorauskommando, dem er angehörte, mit einem Armeewagen zurück.
Unterwegs begegneten den deutschen Soldaten Flüchtlingstrecks, und Hosenfeld spürte bereits das ganze Elend des Krieges, das die Polen als Erste traf. … auf hochbepackten Wagen sitzen sie, davor ein mageres Pferd, Männer, Frauen und immer eine Schar Kinder dabei, das sind noch die Beneidenswertesten, viele laufen zu Fuß, meist barfuß, sie sind schon tagelang unterwegs, haben nichts zu essen. Dann sieht man Mütter mit Kindern auf dem Arm, Kinder hinterherlaufend, schwere Bündel schleppend. Manche ziehen hochbeladene Handwagen, Kinderwagen und dergleichen immer neben der Landstraße her in dem Staub, den die Fahrzeuge in einem fort aufwirbeln.
In Pabianice stand Hosenfeld vor der Aufgabe, auf einem stillgelegten Fabrikgelände ein Lager für polnische Kriegsgefangene einzurichten. Die Stadt selbst mit ihren 60000 Einwohnern wies Kampfspuren auf: … zerschossene Häuser und Brandruinen, aus denen die Fensterhöhlen wie ausgestochene Augen tot und leer zum Himmel blicken . Zunächst galt es, Quartiere für sich und seine Kameraden zu finden. Mit einem Trupp von Soldaten ging Hosenfeld von Haus zu Haus und requirierte die Unterkünfte. Die Einwohner mussten Platz machen, in andere Räume umziehen oder anderswo eine Bleibe suchen. Er selber kam bei einem deutschen Kaufmann unter, dessen Angehörige bei Kriegsbeginn nach Zittau in der Oberlausitz gereist waren. Ihm fehle es an nichts, berichtete er seiner Frau: Schlafzimmer, Bad, Küche, ein gedeckter Tisch. Nur Du, meine liebe, gute, süße Annemie, müsstest hier sein und die lieben Kinder.
Die Unterbringung der Kriegsgefangenen, die zu Tausenden nach Pabianice strömten, erforderte sein ganzes Organisationstalent. Viele hatten tagelange Märsche hinter sich, waren ausgehungert und völlig erschöpft. Bei der Ankunft wurde selektiert, die polnischen Offiziere wurden von den Mannschaften getrennt, Volksdeutsche von den Polen und Juden von allen anderen. Juden mussten sofort schwere körperliche Arbeit verrichten, etwa Schützengräben zuschaufeln, die zur Verteidigung von Pabianice angelegt worden waren. Die Volksdeutschen bekamen Entlassungspapiere, erledigten Hilfsdienste und konnten sich ansonsten frei bewegen.
Immer neue Massen schüttete die Nacht in das Lager hinein. Aus dem Dunkel tauchen die Gestalten auf, abgemagert und schleppenden Ganges, in ihren grünlich braunen, verschmutzten Blusen; die meisten in langen Mänteln von gleicher Farbe, die meist bis auf die Stiefel herabhängen, zerrissen, verdreckt, die Gesichter müde und grau, abgestumpft gegenüber dem Schicksal. So quellen sie hervor aus dem Dunkel, treten für einen Augenblick in mein Gesichtsfeld, verschwommen, schattenhaft, wie eine Vision, und verschwinden wieder in der Finsternis des Lagers.
September 1939: Polnische Kriegsgefangene auf dem Weg in das Lager Pabianice
Auf dem weiträumigen Fabrikgelände mit seinen Backsteinbauten und Lagerhallen herrschte zunächst ein gewaltiges Chaos. Bis Ende September 1939 waren dort in mehreren Schüben über 10000 Kriegsgefangene eingetroffen. Hosenfeld übernahm es, das Lager mit Stacheldraht und Maschinengewehrposten zu sichern und in der Stadt Kochkessel und Lebensmittel zu besorgen. Innerhalb kurzer Zeit richtete er zusammen mit seinen Kameraden eine Großküche mit 30 Kesseln ein und schaffte Pferde-, Rind- und Schweinefleisch sowie Kartoffeln und Sauerkraut herbei. Dreimal täglich war Essensausgabe für die Kriegsgefangenen. … das Wetter ist kalt und regnerisch geworden, notierte der Feldwebel Ende September 1939, und diese armen polnischen Gefangenen, die tagelang vom eisernen Ring der deutschen Truppen eingeschlossen waren, in Dreck und Kälte herumgelegen haben und müde und ausgehungert sind, haben keinen anderen Wunsch, als sich irgendwo »hinhauen« zu können.
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