50 c) Ausnahme: „Abbruch rettender Kausalverläufe“..Es ist geboten, solche Umstände hinzuzudenken, die den Erfolg verhindert hätten, wenn die Handlung nicht stattgefunden hätte (Hinzudenken rettender Kausalverläufe).
Beispiel:
Der Nichtschwimmer X. ist ins Wasser gefallen und droht zu ertrinken. Rettungsschwimmer A. ist gerade dabei, seine Kleider auszuziehen, um X. zu retten. B., ein alter Feind des X., sieht das und schlägt den A. bewusstlos, sodass X. ertrinkt. Hat B. den Tod des X. verursacht?
Hier funktioniert die c.s.q.n.-Formel nicht: Denkt man die Handlung des B. weg, so steht A. nach wie vor da und zieht sich aus. Zu dem Ergebnis, dass X. nicht gestorben wäre, wenn B. den A. nicht bewusstlos geschlagen hätte, kommt man nur, wenn man die Rettungsmaßnahmen des A. hinzudenkt.
51 d) „Überholende“ oder „abbrechende“ Kausalität.
Beispiel:
A. bringt dem X. ein langsam, aber tödlich wirkendes Gift bei. Bevor das Gift wirkt, erschießt B. den X.
Das Problem und seine Lösung: Gelegentlich wird dieses Problem in der rechtswissenschaftlichen Literatur (irreführend) als „abgebrochene Kausalität“ bezeichnet. Die Lösung des Problems gelingt dagegen durch einfache Anwendung der c.s.q.n.-Formel (Äquivalenztheorie): Bei B. ist die Schussabgabe ohne Zweifel ursächlich (kausal) für den Tod des X., denn der Schuss kann nicht weggedacht werden, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt(Tod durch Erschießen) entfiele. Den theoretisch möglichen Tod durch Vergiften darf man nicht hinzudenken, denn er hat ja tatsächlich nicht stattgefunden, wäre also nur eine hypothetische Ersatzursache. Bei A. führt die c.s.q.n.-Formel zum Ergebnis, dass die Giftbeibringung nicht kausal für den konkretenErfolg geworden ist, denn sie kann weggedacht werden, und der konkrete Erfolg (Tod durch Erschießen) bleibt. Die erste Ursache (Gift) ist also niemals kausal geworden. Insofern ist es falsch von „abgebrochener“ Kausalität zu sprechen. Genauer ist deshalb der Terminus „überholende Kausalität “. Die Erstbedingung wirkt nicht bis zum Erfolgseintritt fort. Eine spätere zweite Ursache führt ganz allein und völlig unabhängig den Erfolg herbei. A.: § 212 nicht gegeben, aber §§ 212, 22 und evtl. § 224 I Nr. 1 (Giftbeibringung); B.: § 212 erfüllt.
Etwas anders gelagert sind dagegen die Fälle, in denen die zuerst gesetzte Bedingung bis zum Erfolgseintritt fortwirkt. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn der später Handelnde an die erste Bedingung anknüpft.
Ein Beispielaus der Praxis ist der „Gnadenschuss-Fall“ 9,
in dem ein Täter A. bereits zwei Menschen getötet hatte. Als A. ein drittes Opfer (X.) niedergeschossen hatte, kam ein weiterer Täter (B.) hinzu und gab dem „röchelnden X. den Gnadenschuss“.
A. und B. wurden beide wegen eines vollendeten Tötungsdelikts bestraft. Bei B. ist die Kausalität unproblematisch, weil sein Schuss den Tod des X. unmittelbar bewirkt hat. Dass auch A.’s Handeln kausal für den Tod des X. war, wird damit begründet, dass sein Schuss erst den „Gnadenschuss“ von B. veranlasst hat.
Ein polizeilich relevantes Beispiel bringt der folgende Fall:
52Übungsfall 10: „Rücklicht-Fall“ 10
Der spätere Angeklagte A. wurde als Fahrer eines LKW auf einer Bundesstraße nachts von einer Streifenwagenbesatzung der Polizei wegen des fehlenden linken Rücklichts angehalten. Ein Polizeibeamter setzte den Streifenwagen vor den LKW, während sein Kollege zur Sicherung hinter dem LKW ein Warnlicht aufstellte. Daraufhin wiesen die Beamten A. an, zur nächsten Tankstelle zu fahren, wobei sie die Fahrt mit dem Polizeifahrzeug nach hinten absichern wollten. Ein Beamter nahm das Warnlicht auf, noch bevor A. mit dem LKW losfuhr. Unmittelbar danach fuhr ein weiterer LKW, dessen Fahrer glaubte, ein stehendes Motorrad vor sich zu haben, auf A.’s LKW auf. Dabei wurde dessen Beifahrer tödlich verletzt.
Der BGH hat die Verurteilung des A. wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 bestätigt. Insbesondere sei der durch das fehlende Rücklicht in Gang gesetzte Kausalverlauf nichtdurch das Eingreifen der Polizeibeamten abgebrochenworden. Nach der Äquivalenztheorie ist das fehlende Rücklicht eine nicht wegdenkbare Bedingung, ohne die der Beifahrer nicht zu Tode gekommen wäre. Das bedeutet, dass die Polizeibeamten mit ihrem Eingreifen an die erste Bedingung lediglich angeknüpfthaben, während diese bis zum Erfolgseintritt fortgewirkt hat. Der Umstand, dass A. ja nicht freiwillig auf der Bundesstraße stand, sondern von der Polizei dort angehalten wurde, findet bei dieser Lösung keine Beachtung.
53 e) „Alternative“ Kausalität.
Beispiel:
A. und B. mischen unabhängig voneinander dem X. jeweils eine tödliche Menge Gift in sein Essen. X. stirbt. 11
Bei einfacher Anwendung der c.s.q.n.-Formel erhält man ein unsinniges Ergebnis. Denkt man sich die Handlung des A. weg, so bleibt der konkret eingetretene Todeserfolg. Die Giftbeibringung durch A. wäre somit nicht kausal. Gleiches gilt für die Handlung des B. Auch seine Giftbeibringung kann man wegdenken und der Todeseintritt bei X. bliebe bestehen. Dies würde bedeuten, dass keine Giftbeibringung kausal wäre, obwohl doch jede für sich tödlich war.
In solchen Fällen gilt folgende Modifizierung der c.s.q.n.-Formel: Von zwei (oder mehreren) Bedingungen, die zwar alternativ, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfiele, ist jede für den Erfolg kausal.
54 f) „Kumulative“ Kausalität.
Beispiel:
A. und B. mischen unabhängig voneinander dem X. je eine Dosis Gift in sein Essen. Nur beide Giftmengen zusammen führen zum Tod des X. Für sich allein wäre keine Dosis tödlich.
Im Gegensatz zur „alternativen“ Kausalität funktioniert in den Fällen der „kumulativen“ Kausalität die c.s.q.n.-Formel problemlos: Jede Handlung kann für sich weggedacht werden, und der Erfolg entfällt, weil die übrig bleibende Dosis für sich alleine nicht tödlich ist. Also sind beide Giftbeibringungen kausal.
Kapitel 5:Der subjektive Tatbestand
I.Grundsätzliches
55Jedes Delikt ist entweder ein Vorsatz- oder ein Fahrlässigkeitsdelikt (oder eine Kombination von beiden). Das Vorsatzdelikt ist im StGB der Normalfall, denn soweit das Gesetz schweigt, ist nur vorsätzliches Handeln strafbar. Die Strafbarkeit fahrlässigen Handelns muss im jeweiligen Straftatbestand immer ausdrücklich angeordnet sein. § 15 lautet: Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. Über elementare Begriffe wie Vorsatz, Absicht oder Fahrlässigkeit schweigt das Gesetz, um die Definitionen der Rechtswissenschaft und Rspr. zu überlassen, damit diese nicht auf den Stand der gegenwärtigen Erkenntnisse festgelegt werden. 12In der Ausbildung, in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung hat sich eine weithin gebräuchliche Kurzformelfür Vorsatz herausgebildet: 13Vorsatz ist Wissenund Wollender (objektiven) Tatbestandsverwirklichung.Die klassische Vorsatzdefinition, die heute nach wie vor in der Rechtswissenschaft und Rspr. die vorherrschende Meinung darstellt, lautet: „ Vorsatzist als psychischer Sachverhalt der Willezur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnisaller seiner objektiven Tatumstände“ 14. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen des Vorsatzes ist dabei die „Begehung der Tat“(vgl. § 8), d. h. die Vornahme der Tathandlung(tatbestandliche Ausführungshandlung).
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