Polizeibeamte als Zeugen im Strafverfahren
Vom Ermittler zum Beweismittel
Prof. Dr. Kai Müller
Hochschule für Polizei Baden-Württemberg
2., aktualisierte und überarbeitete Auflage, 2021
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2. Auflage, 2021
Print ISBN 978-3-415-06913-8
E-ISBN 978-3-415-06915-2
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Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1. Kapitel Der Zeuge im System der Beweislehre
I. Grundzüge der Beweislehre I. Grundzüge der Beweislehre Im Unterschied zu dem im Ermittlungsverfahren ausreichenden Verdacht in seinen verschiedenen Formen (Anfangsverdacht, hinreichender und dringender Tatverdacht) müssen in der Hauptverhandlung alle für die Schuld- und Straffrage entscheidungserheblichen Tatsachen voll bewiesen werden. Beweisen bedeutet dabei, vom Bestehen einer Tatsache überzeugt zu sein. Für die nach § 261 StPO notwendige Überzeugung des Gerichts vom Beweis einer Tatsache genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten begründete Zweifel nicht mehr aufkommen. 9 Bleiben nach Abschluss dieser freien Beweiswürdigung des Gerichts Zweifel, so ist zugunsten des Angeklagten zu entscheiden (in dubio pro reo). Dabei muss beachtet werden, dass jeder Mensch über seine eigene, sich von anderen mehr oder weniger unterscheidende Sozialisation, Lebenserfahrung etc. verfügt. Somit kann die Bewertung eines Sachverhalts durch einen Richter – je nach dessen Lebenserfahrung etc. – durchaus verschieden ausfallen. 10 Die Beweiswürdigung beinhaltet insoweit auch subjektive Elemente.
1. Strengbeweisverfahren 1. Strengbeweisverfahren Das Gesetz schreibt für die Beweisaufnahme über die Schuld- und Straffrage strenge Regeln hinsichtlich der zugelassenen Beweismittel sowie deren Verwendung in der Hauptverhandlung vor. Dieser sog. Strengbeweis erlaubt ausschließlich die vier im Gesetz genannten Beweismittel Zeuge (§§ 48–71 StPO), Sachverständiger (§§ 72–85 StPO), Augenschein (§§ 86–93 StPO) und Urkunde (§§ 249–256 StPO). Während Zeuge und Sachverständiger persönliche Beweismittel sind, handelt es sich bei Augenschein und Urkunde um sachliche Beweismittel. Unter Augenschein ist jede sinnliche Wahrnehmung durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Fühlen zu verstehen, 11 wie das Betrachten von Gegenständen, Bildern oder Filmen, die Leichenschau, das Abspielen von Tonbändern etc. Urkunden sind Schriftstücke jeder Art, die verlesbar sind und durch ihren Gedankeninhalt Beweis erbringen können. 12 Diese vier Beweismittel dürfen nur nach den in §§ 244 ff. StPO festgelegten Regeln verwendet werden. Da die (freiwillige) Aussage des Beschuldigten und sein Auftreten in der Hauptverhandlung regelmäßig eine wichtige Rolle für die Urteilsbildung des Gerichts spielen, ist der Beschuldigte zwar kein Beweismittel im technischen Sinn, wird jedoch zum Beweismittel im weiteren Sinn gezählt. 13
2. Freibeweisverfahren 2. Freibeweisverfahren Alle übrigen für das Verfahren erheblichen Umstände, die nicht die Schuld- und Straffrage betreffen, beispielsweise die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten oder die Frage, ob bei der Vernehmung des Beschuldigten verbotene Vernehmungsmethoden (§ 136a I StPO) angewandt wurden, 14 können im sog. Freibeweisverfahren, also auf jede beliebige Art und Weise erhoben werden. Hier kann das Gericht auch Beweismittel einsetzen, die von der StPO nicht vorgesehen sind, beispielsweise eine schriftliche oder telefonische Auskunft. 15 Außerhalb der Hauptverhandlung und damit auch im gesamten Ermittlungsverfahren gilt ausschließlich der Freibeweis.
3. Schwächen des Zeugenbeweises 3. Schwächen des Zeugenbeweises Der Zeugenbeweis ist dabei ein in der Praxis häufig vorkommendes Beweismittel, oftmals das einzige oder zumindest entscheidende Beweismittel. Jedoch ist der Zeugenbeweis auch ein für die Wahrheitsermittlung des Geschehenen unsicheres Beweismittel, da ein Zeuge seine vor Gericht zu bekundenden Wahrnehmungen nicht rein objektiv, sondern aus seiner eigenen Sicht und damit zwangsläufig subjektiv gemacht hat. Neben dieser unbewussten Einfärbung der Zeugenaussage kann der Zeuge auch ein persönliches Interesse am Verfahrensausgang haben und seine Aussage entsprechend ausrichten. Der großen praktischen Bedeutung der Zeugenaussage steht also ein zumindest skeptisch zu beurteilender Beweiswert gegenüber.
II. Der Begriff des Zeugen II. Der Begriff des Zeugen Zeuge ist, wer seine Wahrnehmungen über Tatsachen durch Aussage kundgeben soll. 16 Dabei ist niemand von vornherein untauglich, so dass beispielsweise auch Kinder und Geisteskranke als Zeugen in Betracht kommen. 17 Ebenso ist es unerheblich, ob der Zeuge zufällig eine Beobachtung gemacht hat oder aber gezielt eingesetzt wurde, wie beispielsweise ein Verdeckter Ermittler oder ein V-Mann. Auch eine besondere Sachkunde schließt die Zeugeneigenschaft nicht aus (sachverständiger Zeuge gem. § 85 StPO).
1. Gegenstand der Zeugenaussage 1. Gegenstand der Zeugenaussage Inhaltlich bezieht sich die Zeugenaussage stets auf innere oder äußere Wahrnehmungen durch Sehen, Hören, Fühlen, Lesen, Riechen, Schmecken etc. Da der Zeuge Wahrnehmungen bekunden soll, ist es gerade nicht seine Aufgabe, Rechtsfragen, Erfahrungsregeln, allgemeine Eindrücke, Schlussfolgerungen oder Vermutungen zu tätigen. 18 Der Polizeibeamte als Zeuge sollte sich daher bei seiner Aussage auf seine Wahrnehmungen beschränken und eine Vermischung mit Schlussfolgerungen und Bewertungen vermeiden. Solche Schlussfolgerungen und Bewertungen werden nicht vom Zeugen, sondern vom Sachverständigen getroffen. Auch können reine Werturteile nicht Gegenstand des Zeugenbeweises sein. 19 Über die Charaktereigenschaften eines anderen kann ein Zeuge daher nur aussagen, wenn er auch Tatsachen bekunden kann, die den Schluss auf diese Eigenschaften zulassen. 20
2. Zeugen vom Hörensagen 2. Zeugen vom Hörensagen Auch der Zeuge vom Hörensagen fällt unter den Zeugenbegriff. Er berichtet über das, was Dritte ihm gegenüber geäußert haben, er also von diesen gehört hat, nicht aber, ob das Gehörte auch wahr ist. 21 So ist der Polizeibeamte, der vor Gericht über die von ihm durchgeführte Beschuldigtenvernehmung berichtet, Zeuge vom Hörensagen. Die Aussage eines solchen „mittelbaren Zeugen“ ist zwar vor Gericht verwertbar, hat allerdings einen geringeren Beweiswert, da der Zeuge vom Hörensagen das Bekundete eben selbst nur vom unmittelbaren Zeugen bzw. vom Beschuldigten gehört hat. 22 Merke: Der Zeuge vom Hörensagen bekundet somit nicht eine zum gesetzlichen Tatbestand gehörende Tatsache, sondern ein Beweisanzeichen, das auf eine solche Tatsache hindeutet. 23 Die Aussage eines Zeugen vom Hörensagen muss daher regelmäßig durch weitere Indizien abgesichert werden. 24
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