In den Aufzeichnungen ihrer Großmutter fanden sich viele Hinweise auf Besuche eines Bauernhofs, der einer gewissen Familie Merkelbach gehörte. Offenbar waren Michaelas Eltern mit dieser Bauernfamilie eng befreundet gewesen und sie hatte noch im Jahre 1938 gemeinsam mit ihrem Bruder Daniel einen Teil der Sommerferien in Wahlscheid verbracht.
Im Internet hatte Christina weder Informationen über den Bonner Anwalt gefunden noch Hilfreiches über den Ort Wahlscheid oder deren Einwohner in Erfahrung gebracht. Sie hatte per Email Kontakt zu dem Betreiber einer privaten Homepage der Stadt Lohmar aufgenommen. Wahlscheid war in den 60er Jahren nach Lohmar eingemeindet worden und nurmehr Ortsteil der Stadt. Immerhin konnte ihr der ferne Webmaster mitteilen, dass ein Werner Merkelbach in einem Altenwohnheim lebt und sich offensichtlich guter Gesundheit erfreut. Die Homepage des Wohnheims sagte lediglich, dass ein „Relaunch“, eine Neugestaltung des Internet-Auftritts unmittelbar bevorstünde.
Christinas Mutter war ihr keine große Hilfe bei der Auflösung des Rätsels. Heidemarie lebte seit der Trennung von ihrem Mann vor 10 Jahren in einer Scheinwelt, verließ ihr Zuhause so gut wie überhaupt nicht mehr und saß nur im Wohnzimmer, um dümmliche Soaps im Fernsehen anzuschauen oder in Frauenzeitschriften zu blättern. Auf Fragen reagierte sie kaum und gab nur ausweichende Antworten, wenn die Sprache auf Ereignisse kam, die außerhalb der gemeinsamen Jahre mit ihrem Ehemann lagen.
So hatte Christina beschlossen, nach Deutschland zu reisen. Nach erfolgreichem Abschluss ihres Studiums hatte sie nun die Zeit dazu. Sie hatte etwas Geld von ihrem Vater erhalten und frei von Beziehungen sonstiger Art war sie auch. Was lag also näher, als sich ein wenig das alte Europa anzuschauen und dabei vielleicht etwas über ihre Großmutter und ihre eigene Herkunft herauszufinden. Ihre Mutter in dem Haus in Brockport allein zu lassen, fiel ihr natürlich schwer, aber sie dachte sich, dass sie sich vielleicht ein bisschen neu besinnen würde, wenn sie sich mal eine Weile selbst um die täglichen Belange kümmern müsse.
Christina starrte durch das kleine Fenster auf die Wolkendecke, die sich unter dem Flieger ausbreitete und dachte an die gemeinsamen Jahre mit ihren Eltern in dem kleinen Häuschen in der Nähe des Campus der Universität, an ihre stille, immer etwas bekümmert wirkende Mutter und ihren Vater, der die Attitüden des intellektuellen 68er-Studenten auch als Dozent einer Universität nie abgelegt hatte. Sie musste lächeln, als sie ihren Vater inmitten einer kleinen Schar von Studenten vor sich sah. Mit seinem Strubbelkopf, den fleckigen Jeans und dem alten T-Shirt sah er aus wie einer von ihnen, wenn sie nächtelang über Gott und die Welt diskutierten, Rotwein tranken und große Joints rauchten. Eine Zeitlang hatten sie das vor dem kleinen, rothaarigen Mädchen zu verbergen versucht, aber irgendwann hatte ihr Vater ihr erklärt, was es damit auf sich hatte, und sie hatte den qualmenden Gestank als eine der vielen Merkwürdigkeiten der Erwachsenen akzeptiert. Mutter verbrachte diese Stunden meist in der Küche, kochte Suppe und machte Sandwichs für die Bande.
„Madam – bitte schnallen Sie sich an. Wir landen in wenigen Minuten.“ Die Stewardess holte Christina in die Gegenwart zurück. Sie band ihre roten Locken zusammen, verstaute die Unterlagen wieder in die alte Ledertasche und ihren Laptop in den Rucksack.
Sie hatte in Köln ein Hotel gebucht und wollte sich dort zunächst ein paar Tage orientieren. Es war nicht weit nach Bonn, wo sie den Anwalt aufzutreiben hoffte, und auch das Nest Wahlscheid lag nur eine halbe Autostunde entfernt, wie sie auf ihrer Roadmap im Internet festgestellt hatte. Für die meisten Reisenden aus den USA war Köln eine „One-Stop-City“, eine Stadt, die man nur der einzigen Sehenswürdigkeit, des Doms wegen, besuchte. Sie wusste es besser, ein Kommilitone hatte eine Weile in Köln gelebt und ihr eine Menge mehr Interessantes über die Stadt erzählt.
Köln, Anfang November 1938
Anat
Anat trat aus dem Haus in der Budengasse, wo ihre Wohnung lag, und stand einen Augenblick auf der nassen Straße. Er hatte sich einen Termin beim alten Bankier Weber geben lassen und hoffte, dass er sich damit endlich Klarheit verschaffen konnte, wie sich sein Leben und das seiner Familie zukünftig gestalten sollte.
Die Nazis hatten ihm seine Goldschmiedewerkstatt dicht gemacht. Er musste seine elf Angestellten entlassen und auch sein Schmuckgeschäft hatte er schon vor zwei Jahren geschlossen, als die Angriffe gegen ihn zu massiv wurden. Einer seiner alten Kollegen beschäftigte ihn seitdem bei Bedarf als Uhrmacher. Jetzt kam ihm zugute, dass ihn sein Vater nach dem Krieg in eine Lehre gedrängt hatte. Er konnte von Glück sagen, dass er es mithilfe eines alten Angestellten geschafft hatte, einen Großteil der Goldvorräte und die Schweizer Vreneli-Münzen auf Seite zu schaffen und sie so dem Zugriff der Nazi-Schergen erst einmal zu entziehen. Seit April des Jahres mussten Juden Geldbeträge über 5.000 Reichsmark anmelden und Anat hatte pflichtgemäß sein Bankkonto angegeben, das rund 20.000 RM auswies, den Rest aber verschwiegen. Sie hatten ihn bis zum Gauleiter Grohé zitiert, wo er befragt wurde, aber letztlich ließen sie ihn wieder laufen. Offensichtlich waren die Nazis der Meinung, dass er sich irgendwann verraten würde und das Vermögen der Liesenthals dann ohne öffentlichen Skandal in die Hände des Volkes fiel, wo es ohnehin hingehörte, denn nach Meinung Josef Grohés hatten die Juden alles dem deutschen Volk gestohlen.
Er betrat das Vorzimmer des Bankiers und das grau gekleidete Fräulein gestattete sich einen abschätzenden Blick. Die Kleidung des ehemaligen Goldschmieds war tatsächlich nicht mehr zeitgemäß und an einigen Stellen geflickt, aber er und Rinah hatten beschlossen nicht zu zeigen, dass sie noch über nicht unerhebliche Mittel verfügten, um die Begehrlichkeiten der Nazis in Grenzen zu halten.
„Der Herr Direktor Weber hat gleich Zeit für Sie. Warten Sie einfach einen Moment ab.“ Sie bot ihm keinen Stuhl an. Noch vor vier Jahren hätte sie sich vor Freundlichkeit überschlagen und ihm eine Tasse Kaffee angeboten, aber die Denkmuster dieses einfach gestrickten Geschöpfs waren von den Einflüssen der Zeit nicht verschont geblieben.
Eine Tür in der schweren Eichentäfelung öffnete sich und der alte Bankier betrat humpelnd den Raum. Schwergewichtig mit hochrotem Kopf und Schwabbelkinn entsprach er voll dem Prototypen eines Bankers dieser Zeit. Einzig die listigen Augen unter den dicken Haarbüscheln seiner Augenbrauen zeigten eine gewisse Lebhaftigkeit. „Kumm rinn, Jung – un, Friedche, breng uns ene Kaffee, aber ne juute.“ Wenn Anat ihn so sah, konnte er seine stille Sympathie für den alten Knochen nicht verbergen. Er musste schmunzeln, weil der „Ühm“, wie ihn seine Freunde nannten, den Singsang seiner kölschen Zunge nicht verbergen konnte, auch wenn er versuchte, Hochdeutsch zu sprechen. Anat wusste, dass der schwer herzkranke Ühm neben Englisch und Französisch auch fließend Russisch sprach, sehr gebildet war, und lange Abende bei Schoppen und dicken Zigarren mit Gästen aus allen Schichten im Mohr-Baedorf am Neumarkt verbrachte und über Gott und die Welt philosophierte.
Dennoch: der alte Weber war ein knallharter Geschäftsmann und ein Nationalist wie er im Buche stand und hatte als solcher klar gesagt, was er von der Ehe zwischen seiner Enkelin Rinah und Anat hielt. Aber schon sein Sohn Hubert hatte einen eigenen Kopf gehabt, eine Halbjüdin geheiratet und sich komplett aus der Familie und dem Bankgeschäft seines Vaters zurückgezogen. Geld interessierte ihn nicht und so fristete er sein Leben als ebenso erfolg- wie mittelloser Musiker und Komponist in der Kölner Altstadt. Kurz nach Rinahs Geburt kamen er und seine Frau bei einem Brand ums Leben und Rinah wurde von der Familie Tietz aufgenommen, die als jüdische Kaufmannsfamilie von Posen an den Rhein gekommen war und von hier aus eine Kaufhauskette aufgebaut hatte. Sie waren Juden und als solche sehr um eine soziale Absicherung ihrer Gemeindemitglieder bemüht. Rinah zeigte sich als ruhiges, aber kluges und lernbegieriges Kind, und obzwar der Großvater Ühm Weber offizieller Vormund war, nahm Rinah doch sehr bald die Stelle einer Tochter in der Familie Tietz ein. Als sie dann 1925 den erfolgreichen Goldschmied Anat Liesenthal heiratete, konnte sich der Ühm kaum gegen die inzwischen mächtigen Kaufleute zur Wehr setzen und hatte der Verbindung schließlich seinen Segen gegeben.
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