Überhaupt hatten auch die drei „Pänz“ eine Menge Spaß miteinander. Die beiden Stadtkinder genossen es, alle paar Monate einige Tage durch die Wälder, Wiesen und Scheunen der Umgebung zu streunen. Heidrun und Wilhelms Sohn Werner wurde 1925, ein Jahr nach ihrer Heirat geboren, Michaela war ein Jahr jünger und der kleine Daniel würde bald sechs werden.
Hoffentlich würden sie sich in Köln durchsetzen können. Gegen diesen Hass und die Gleichgültigkeit konnte auch all das Geld, das ihr Vater verdient hatte, nicht ankommen, ging es Heidrun durch den Kopf. Traurig hatte Anat berichtet, dass die braune Flut nun auch den Kölner Karneval erreicht hatte. Seit die Gestapo ihr Hauptquartier für den Gau Köln-Aachen mitten in der Stadt eingerichtet hatte, war man in der Kölner Innenstadt nicht mehr sicher und im Rosenmontagszug, wichtigste Ikone Kölner Brauchtums, waren Wagen mit antisemitischen und rassistischen Hetzparolen mitgefahren. Die Kölner Karnevalsvereine hatten sich weitgehend mit den neuen Herren arrangiert, denn wer aufmuckte oder der humorlosen Bande den Spiegel vorhielt, wurde drangsaliert und bekam Auftrittsverbot, wie der Büttenredner Karl Küpper, der den dämlichen Nazigruß mit „ Eß et am rähne? “ oder „ Bei uns im Keller litt der Dreck esu huh! “ veräppelte. Anat hatte sich jahrelang im von Max Salomon gegründeten und allseits respektierten jüdischen Karnevalsverein „Kleiner Kölner Klub 1922“ engagiert, aber mittlerweile war auch der Kölner Fasteleer von den braunen Rotten infiltriert und er wurde kaum noch eingeladen. Ein Vereinsleben war ihm als Jude ohnehin verwehrt, aber seine finanziellen Zuwendungen wurden vom Komitee gerne angenommen, hatte ihr Rinah erzählt.
„Komm, wir fahren heim.“ – Willi riss seine Frau aus ihren Gedanken. „Willst du nicht noch auf ein Bier und einen Schnaps in den Bahnhof?“ Trotz der gedrückten Stimmung gestern Abend hatten die beiden Freunde zwar eine gute Portion Alkohol gehabt, aber sie wollte ihrem Mann nicht seine gewohnte Einkehr nehmen. „Nein – ich will heim, mir ist nicht nach Gustav“, meinte er mit einem Blick auf den Bahnhofsvorsteher, der in seiner Strickjacke jetzt wieder wie ein Wirt aussah und mit seinem alten Kumpel, dem Kürten-Scheng, auf der Bank saß und sich von seiner Schwester den Schnaps bringen ließ. Eine Frau hatte Gustav nicht und außer seiner Schwester Gertrud hätte es auch kaum eine Frau bei diesem ewig greinenden und vor sich hinknurrenden alten Dickschädel ausgehalten.
Der wahre Grund, warum Willi nach Hause wollte, war Heidrun nicht verborgen geblieben. An der Theke in der Gaststätte saß Richard Schiermeister, der „Dorfschulze“, wie er von allen genannt wurde. Bei der Gemeindewahl 1933 war er mit seinen wirren Hetz-Parolen mit Pauken und Trompeten durchgefallen, aber ein Jahr später wurde er nach der neuen Reichs-Gemeindeverfassung vom Landrat in Siegburg als „Gemeindeschulze“ eingesetzt. Willi war schon mehrfach aufs Übelste mit dem grobschlächtigen Schwätzer aneinandergeraten, vor allem Willis Freundschaft zu einem Juden wurde von ihm ständig böse kommentiert.
Sie stiegen in den Wagen, Wilhelms ganzer Stolz: ein Brennabor Typ P von 1919, den ihm sein Onkel, der im Nachbarort die Tochter des Kohlenhändlers geheiratet hatte, vor ein paar Jahren geschenkt hatte. Das Gefährt stammte aus der ersten Serie von Fahrzeugen, die nach dem Krieg wieder in Brandenburg gebaut worden waren und entsprechend anfällig war der 8-Zylinder mit seinen 24 PS auch. Aber Willi war ein geschickter Handwerker und er bekam so allerlei wieder ans Laufen.
Wahlscheid, August 1938
Joachim
Als er des Nachmittags mit seinem Vater durch den Ort fuhr, hatte Joachim die beiden schon gesehen, als sie aus dem Zug stiegen: Das Judenmädchen und ihr kleiner Bruder, die wieder mal im Dorf auftauchten und von den Merkelbachs abgeholt wurden, um bei den Judenfreunden zu schmarotzen, wie sein Vater das nannte. Der musste es wissen, denn er war der Ortsvorsteher.
„Lass bloß die Finger von denen“, hatte ihn sein Vater gewarnt. Dass das keine richtigen Menschen sind, hatte er schon kapiert, aber das schöne, hochgewachsene Mädchen mit den langen schwarzen Haaren interessierte ihn doch, seit er nachts trotz der sommerlichen Hitze das dicke Plumeau bis zum Kinn hochzog, damit nur ja niemand merkte, dass er wieder und wieder Hand an sich legen musste, um den Druck seiner knapp 14 Lenze loszuwerden. Natürlich plagte ihn das schlechte Gewissen, aber es war an der Zeit, das gierige Gerede seiner Schulfreunde zu überprüfen. Sonst war er überall der Wortführer, aber mangels praktischer Erfahrung konnte er in dieser Hinsicht nicht viel zu den Halbwahrheiten und den Phantastereien der Beuede* beitragen. Er hatte keine Schwester oder Cousine, wo er mal am Badetag durchs Schlüsselloch spinksen* konnte, und so beschränkten sich seine optischen Eindrücke auf einige Zeichnungen und zerknitterten Fotos, die seine Kumpels in der Tasche ihrer kurzen Lederhosen mit sich herumtrugen, um damit anzugeben.
Nein – er musste endlich eigene Erfahrungen sammeln und warum nicht mit dieser Judengöre, die ja ohnehin kein richtiges Mädchen ist, aber offensichtlich über die geeigneten Attribute verfügte, um als Anschauungsmaterial zu dienen. Da konnte sein Vater eigentlich nichts dagegen haben. Außerdem wollte er sich ja auch nicht erwischen lassen. Er wusste, dass die Kölner Freunde der Merkelbachs in den beiden Zimmern des Anbaus wohnten, wenn sie auf dem Hof waren. In dem Anbau hatten Willis Eltern gewohnt, bis sie vor einigen Jahren kurz hintereinander starben und ihrem einzigen Sohn den Bauernhof überließen. Und nun nisteten sich die beiden Judenbälger hier ein, um ein paar Tage der Sommerferien auf dem Land zu verbringen. Die Weide reichte fast bis an das Haus heran und lediglich ein Weg aus Steinplatten, in deren Zwischenräumen Gras und Unkraut hervorguckten, trennte den Zaun aus handgedrehtem Stacheldraht von der Hauswand. Der helle Mond stand auf der anderen Seite des Hauses und er konnte unbemerkt und im Schlagschatten bis an das Fenster herantreten in der Hoffnung, durch die kleinen Sprossenfenster einen vorwitzigen Blick nach innen werfen zu können. Gefahr drohte ihm nicht, denn er hatte gesehen, dass Wilhelm Merkelbach mit seinem Sohn Werner und dem kleinen Daniel zu einem Hochsitz gewandert waren, um Wild zu beobachten. Die Bäuerin hielt sich in der Küche auf und putzte Gemüse.
Michaela saß am kleinen Tisch an der Wand rechts von ihm und las in einem Buch. Links standen zwei Betten, die durch zwei schmale, hohe Nachtschränkchen voneinander getrennt waren. Das Mädchen hatte ihr sonst streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar offen über den Schultern hängen. Ihr Kleid, die hellrosa Bluse und die Schürze lagen achtlos hingeworfen auf einem kleinen Teppich. Auch ihr war es offensichtlich viel zu warm nach diesem heißen Sommertag und so trug sie nur eine Unterhose und ein dünnes ärmelloses Hemd. Der Raum war durch zwei Kerzen auf dem Tisch und einer Spirituslampe an der Decke beleuchtet. Der Hof verfügte zwar über Strom, aber die Leitungen reichten offensichtlich noch nicht bis in diesen Anbau. Die Tür zum dunklen Flur gegenüber stand offen, um etwas Frischluft in das Zimmer zu lassen. Wahrscheinlich hatte das Mädchen die Fenster geschlossen, um die Mücken fernzuhalten. Sie hatte ihren Kopf in die linke Hand gestützt, ihre rechte lag auf dem nackten Oberschenkel. Das flackernde Licht der Kerze beleuchtete ihr gespannt lesendes Gesicht und er konnte sehen, wie ihre Augen über die Seiten flogen. Ab und zu blätterte sie um. Fasziniert beobachtete Joachim, wie sich ihre Schenkel rhythmisch öffneten und schlossen, offenbar in nervöser Anspannung, die die Geschichte in dem dicken Wälzer hervorrief. Er konnte sich nicht satt sehen. Plötzlich klappte sie das Buch zu, stand auf und räkelte sich, streckte die Arme nach beiden Seiten und hinter den Kopf. Die kleinen Brüste drückten gegen den Stoff, als sich der junge Körper dehnte. So etwas hatte Joachim noch nie gesehen. Gebannt starrte er durch die Scheibe, als Michaela plötzlich mitten im herzhaften Gähnen und Strecken innehielt und ihre Augen weit aufriss.
Читать дальше