Der Rest ist noch ein Flackern der Augen, entsetzte Schreie, Gezerre an seinem Hemd, hektische Betriebsamkeiten und letztlich der Sturz ins Bodenlose, Dunkelheit und Ruhe.
Eifel, April 1918
Wilhelm
Mit Juden hatte er eigentlich noch nie Kontakt gehabt. Und jetzt hatte ihm der Leutnant diesen Kölner Schöngeist an die Seite gestellt und sie zusammen auf diesen vorgeschobenen Posten befohlen. Seit Tagen lagen sie nun schon unter Sperrfeuer aus dem Wäldchen gegenüber und die Lage im Matsch des Schützengrabens wurde allmählich brenzlig. Anat, der junge Mann neben ihm, war kaum ein Jahr älter als er, Wilhelm Merkelbach, Bauernsohn aus einem Nest im Bergischen, das für den Kölner „knapp vor dem Ural“ lag, wie alles, was auf der Schäl Sick, der östlichen Rheinseite, liegt. Aber immerhin hatte Anat Liesenthal Mut bewiesen, als vor ein paar Tagen eine Kontaktaufnahme zu ihrem Befehlsstand in dem kleinen Eifeldörfchen hinter ihnen angesagt schien und irgendwer über die freie Pläne laufen und Meldung machen musste. Seitdem hatte sich doch etwas mehr Respekt vor dem Menschen mit dem verdächtigen Glauben eingestellt. Der schlanke, hochgewachsene Bursche hatte Tabak mitgebracht und dem Küchenbullen ein schönes großes Stück Pökelfleisch geklaut. „Schweinefleisch? Du? – Ich dachte immer .…“ – „Glaubst du, Gott wäre glücklicher, wenn ich hier verhungere?“ Sprach´s, machte sich über den Batzen her und teilte den Kanten in gleiche Stücke auf.
Anat war Spross einer kölnischen Goldschmied-Dynastie, die schon seit vier Generationen in der Domstadt Werkstatt und Geschäft betrieb. Sie war sogar mit der Bankiersfamilie Oppenheim verwandt, die als einer der ersten jüdischen Familien Anfang des 19. Jahrhunderts wieder in Köln siedeln durfte, nachdem die liberalen Einflüsse der Französischen Revolution im Rheinland spürbar wurden. Ständig nervte er Wilhelm mit klugen Sprüchen und Gedichten, die zu lernen sein preußisch korrekter Lehrer in der einzügigen Dorfschule nicht für wichtig gehalten hatte. Was hätte es auch genutzt, wenn er bei der Kartoffelernte im Aggerbusch mit krummem Buckel über Theodor Storms „Schimmelreiter“ philosophieren oder Passagen aus Victor Hugos Spätwerk hätte zitieren können.
Aber er hörte aufmerksam zu und langsam erschlossen sich ihm die Feinheiten seiner eigenen Sprache und er fasste den festen Vorsatz, sich nach dem vermaledeiten Krieg ein oder zwei Bücher zu kaufen und es selbst mal mit Lesen zu versuchen, wenn er des Abends in seiner kleinen Dachkammer im elterlichen Hof mit wehem Kreuz und hungrigem Bauch auf den Strohmatratzen lag. Vielleicht konnte er auch den Pastor um ein Buch angehen – aber er war sich nicht sicher, ob ihn dieser nicht mit spöttischem Gelächter davonjagen würde.
„Der Krieg ist sowieso bald vorbei“, hatte Anat erzählt, als sie kauend im Dreck hockten. „Die Offensive an der Marne ist ins Stocken geraten und unsere Leute kriegen tüchtig Haue. Einer der Melder hat es mir erzählt. Dann macht´s bumm! Und aus ist´s mit Kaiser und Vaterland.“ Wie so oft hatte er dem 19-jährigen Kameraden geglaubt und in dieser Nacht lange über die Konsequenzen nachgedacht. Unvorstellbar, ein Leben ohne die strenge Ordnung und Hierarchie, dem Postmeister, dem Dorfpolizisten – wie sollte das funktionieren? Aber sein Weltbild war eh schon ins Wanken geraten, als er in seiner deutschen Wehrmacht auf Juden traf, die wie selbstverständlich neben ihm Dienst taten und keinen Hehl aus ihrer Treue zu Heimat und Kaiserreich machten. Zuhause im Dorf wurden sie als „Saujüdden“ und „Vaterlandsverräter“ beschimpft, und wie er vom Hörensagen wusste, gab es nur ein paar jüdische Familien an der Sieg und in Siegburg, einer Stadt, die für ihn so unendlich weit weg war, dass er sich kaum erinnern konnte, jemals dort gewesen zu sein. Geschweige denn in Köln, jener Stadt, von der ihm sein weltgewandter Kamerad so viel erzählte. Anat war mit seinen Eltern sogar einmal nach Hamburg gefahren. Sie hatten den Bruder seines Vaters zum Schiff begleitet, das ihn nach New York bringen würde, um dort eine – wie nannte Anat es noch – Dependance ihres Kölner Geschäfts zu eröffnen.
Wenn Anat gewusst hätte, welch ein Segen diese verwandtschaftliche Beziehung einmal für seine Familie sein sollte.
Es lagen noch vier scheußliche Wochen vor ihnen, bis der Krieg für sie endlich vorbei war, sie in Gefangenschaft gerieten und einige Monate später, im Frühjahr 1919 gemeinsam nach Hause zurückkehren konnten und jeder für sich wieder in seine Welt eintauchte, die sich grundlegend geändert hatte. Einen Kaiser gab es nicht mehr, ein Sozialdemokrat hatte die Republik ausgerufen und während sie in französischer Gefangenschaft festsaßen, hatten Wahlen zur Nationalversammlung stattgefunden. So unterschiedlich die beiden waren, ihre Freundschaft sollte über den Tod hinaus Bestand haben.
Erst viele Jahre später sollte Wilhelm bewusst werden, dass viele Männer weniger Glück hatten als die beiden. Sie kamen schwer traumatisiert, verstümmelt oder verwundet nach Hause. Oder überhaupt nicht mehr. Eine arrogante, inzüchtige Monarchie mit einem Kaiser, dessen Dummheit nur noch von seiner Selbstüberschätzung übertroffen wurde, hatte diesen Krieg angezettelt und ein Volk in ein Unglück gestürzt, das noch drei Jahrzehnte andauern sollte, bis ein Selbstreinigungsprozess in Gang kam, der wenigstens für Europa die Chance für eine Befriedung der Nationen bot.
Werner Merkelbach hatte nie geheiratet. Gelegenheiten hatte es genug gegeben, aber eigentlich war er zufrieden mit seiner Rolle als Bauer auf dem Hof, den er gemeinsam mit seinen Eltern bewirtschaftete. Mitte der Sechziger starb sein Vater Wilhelm bei einem Unfall mit dem Traktor, seine Mutter hatte sich von dem Schock nie erholt und starb zwei Jahre später. Werner wurde bewusst, dass auch er nicht ewig als einsamer Bauer würde überleben können. Er verpachtete einige der Äcker und Wiesen, die zum Hof gehörten, und gestaltete einen Teil des am Flüsschen Agger gelegenen Weidelandes in einen Campingplatz um. Das erwies sich als Goldgrube, denn viele kleinere Angestellte und Arbeiter aus dem nahen Köln sehnten sich nach einem ruhigen Wochenende auf dem Land und so waren die 80 Stellplätze bald vermietet. Die winzige Kneipe, die er in einem Teil des Hofs ausbaute, war bald Anlaufpunkt für die „Etagenwanzen“, wie die Camper von den Einheimischen genannt wurden.
Nach und nach baute Werner den alten Stall und die beiden Scheunen in Wohnungen um und so entstand rund um das alte Wohngebäude ein kleiner, heimeliger Wohnpark. Das bescherte ihm keine Reichtümer, aber er konnte gut davon leben, ohne sich sonderlich anstrengen zu müssen.
Es war 1975, sein fünfzigster Geburtstag. Werner hatte ein Menü für das gute Dutzend Freunde zusammengetüftelt, die sich mehr oder minder regelmäßig zum Schwafeln, Kochen, Essen und der Dezimierung des einen oder anderen Weinkellers zusammenfanden. Als Hauptgang sollte es „Penis Aggertalensis” geben, wie er das butterzarte Fleischgericht nannte. Dazu schnitt er ein Rinderfilet der Länge nach auf, sodass ein rechteckiges, einen Zentimeter dickes Stück Fleisch vor ihm auf der Tischplatte lag. Dieses wurde kräftig gepfeffert und gesalzen und mit körnigem Dijonsenf eingeschmiert. Darauf kam eine dünne Lage Sauerkraut und Kirschen, deren Saft zuvor mit Madeira eingedickt wurde. Diese Lage rollte er wie eine dicke Roulade auf, verschnürte das Päckchen mit Küchengarn und briet es in einer großen Pfanne von allen Seiten kräftig an. In Alufolie eingepackt würde es vier bis fünf Stunden bei 80 Grad im Backofen brauchen, bis die Temperatur im Innern des Fleischs exakt 55 Grad betrug.
Читать дальше