In diesen Gedanken versunken rumpelten sie über die Betonpiste bis zur Ausfahrt im Königsforst, um von dort die Landstraße nach Wahlscheid zu nehmen. Gegen Mittag fuhren sie auf dem Hof der Merkelbachs vor.
Heidrun kam sogleich aus dem Haus gelaufen, wischte sich die Hände an der Schürze ab. „Anat! – Was machst du hier? Und Emil?“ Heidrun war ziemlich erstaunt, drückte Anat einen kurzen Kuss auf die Wange und blickte fragend von einem zum anderen.
„Ich muss mit euch reden. Ist der Willi da?“ – „Willi ist auf dem Feld. Weil es ausnahmsweise mal nicht regnet, wollte er ein paar Zäune flicken. Werner kommt gleich aus der Schule heim. In einer halben Stunde gibt es Essen und dann sind beide da. Kommt doch solange rein.“
„Ich würde gerne etwas ausladen und für ein paar Stunden bei euch abstellen. Kann ich das mit Emil in den Anbau stellen? Es sind ein paar kleine Kistchen. Wir klären später, was damit gemacht wird, wenn Willi wieder da ist.“
Natürlich hatte Heidrun nichts dagegen, auch wenn ihr die Sache ziemlich merkwürdig vorkam, und so schleppten Emil und Anat die Kisten und die beiden Säcke in den kleinen Anbau, der für Anat und seine Familie so oft vorübergehende Heimat gewesen war, wenn sie am Wochenende oder in den Ferien zu Besuch waren.
Anat bat Emil noch, den Wagen in die Scheune zu fahren. Der Hof lag zwar etwas abseits vom Dorf, aber der auffällige Wagen musste nicht von jedem gesehen werden. Anschließend setzten sie sich in die Küche und warteten auf Wilhelm und Werner.
Dem neugierigen Augenpaar hinter den Brombeersträuchern im kleinen Kirschbungert entging nichts von dem, was auf dem Hof der Merkelbachs vor sich ging.
Wahlscheid, Mai 2003
Werner
Lange stand Werner Merkelbach vor dem Fenster und blickte hinaus auf die Wiese und den Fluss, an dem er nun seit vielen Jahrzehnten wohnte. Das Älterwerden hatte ihm nichts ausgemacht und er meinte, dazu auch keine Zeit zu haben. All die Jahre hatte er sich um Haus und Hof gekümmert. Heiraten war sein Ding nicht, auch wenn er nichts hatte anbrennen lassen. Sein Leben war dennoch in geordneten Bahnen verlaufen.
Er hatte den alten, kleinen Bauernhof seiner Eltern in einen respektablen Betrieb verwandelt und wenn nun auch keine Kartoffeln mehr auf seinen Äckern wuchsen, so konnte er doch seinen Studenten beim Wachsen zuschauen und sie mit den Mitteln, die ihm und seinen Mitbewohnern zur Verfügung standen, nach Kräften unterstützen, indem sie ihnen freies Wohnen während des Studiums gewährten.
Er ging hinüber zu der kleinen Kirschbaumvitrine, die er selbst vor einigen Jahren liebevoll restauriert hatte, und öffnete die untere, mit Broschüren vollgestopfte Schublade. Er konnte selbst nicht verstehen, warum er diese alten Reiseprospekte immer noch aufhob. Jetzt, in seinem Alter, würde er es doch nicht mehr schaffen, die „Inseln unter dem Wind“ zu besuchen. Darunter fand er, was er suchte: ein altes, in Leder gebundenes Fotoalbum. Seit dem Umzug aus der alten Kate in die neue moderne Wohnung hatte er das Album nicht mehr in den Händen gehalten. Fast ehrfürchtig öffnete er die ersten Seiten aus schwarzem Karton. Ein Hochzeitsfoto seiner Eltern im grauen Passepartout von 1925, er selbst als nacktes Baby, seine Großmutter als junges Mädchen, sein Vater in voller Kriegsmontur mit Pickelhaube, Gewehr und Rucksack – die Bilder unterschieden sich nicht von anderen Fotoalben aus dieser Epoche. Weiter hinten seine Eltern mit ihm im Wahlscheider Kurgarten vor den beiden großen Zwillingstannen, die irgendwann dem grauenhaften Flachdachbau hatten weichen müssen, links ein Stück der Auto-Werkstatt von Vaters altem Kumpel Max, verblichene Schwarzweißfotos von der Kirmes auf dem Parkplatz Auelerhof mit der Eisenbahnbrücke im Hintergrund, eine eingeklebte Postkarte vom Schloss Auel ohne den grässlichen, neuen Anbau. Auf den letzten Seiten fand er endlich, was er suchte. Vorsichtig trennte er die dünnen, durchsichtigen Zwischenblätter von den Fotos und betrachtete die Abbildungen seiner Eltern und einem Paar, an das er sich nur sehr dunkel erinnern konnte. Er fand auch Bilder von sich selbst und den beiden Kindern der Liesenthals. Der kleine Daniel musste damals, kurz vor Ausbruch des Krieges, etwa zehn gewesen sein, das wunderschöne, zarte Mädchen mit dem langen, schwarzen Zopf auf dem letzten Foto im Album vielleicht vierzehn Jahre alt.
Versonnen blickte Werner aus dem Fenster und langsam kehrten die Erinnerungen zurück an das Frühjahr ´43, an die dramatischen Ereignisse auf dem kleinen Hof seiner Eltern. Und an das Mädchen, das viele Jahre lang nicht aus seinen Gedanken verschwinden wollte, das ihm doch unerreichbar bleiben und irgendwann aus seinen Erinnerungen verschwinden sollte.
Er seufzte tief – fast ein Schluchzen, klappte das Album zu und verließ einmal tief durchatmend das Zimmer.
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