Eisenstein schüttelte den Kopf.
„Hier, nimm einmal dieses Messer und tu so, als ob du zustichst.“
Eisenstein nahm ein langes Küchenmesser aus der Schublade und hielt es Ronni hin. Dabei baute er sich in voller Größe vor ihm auf.
„Wo hast du denn das Messer her?“, fragte Ronni ungläubig und starrte das Fleischmesser an.
„Aus unserer kleinen Küche nebenan natürlich“, antwortete Eisenstein wie selbstverständlich.
Kopfschüttelnd nahm Ronni das Messer in die rechte Hand.
„Und jetzt soll ich so tun, als ob ich zusteche?“
„Ja, sei nicht so ängstlich. Du musst ja nur so tun und nicht tatsächlich zustechen“, lachte Eisenstein.
Ronni simulierte einen Stich in Franks Bauchgegend. Eisenstein packte blitzschnell zu und hielt das Handgelenk mit dem Messer fest.
„Siehst du? Die scharfe Klinge zeigt nach unten und der Einstich würde demnach senkrecht verlaufen. Die Einstiche bei unserem Toten verlaufen aber waagerecht. Das bedeutet, der Täter hat wahrscheinlich von der Seite aus zugestochen. Womöglich hat er neben dem am Boden liegenden Opfer gekniet und dann zugestochen“, folgerte Eisenstein.
Ronni zeigte sich beeindruckt. Eisenstein ließ sein Handgelenk los und Ronni legte das Messer auf den Schreibtisch.
„Um acht Mal so tief in einen Körper einzustechen, dass drei Stiche sofort tödlich sind, braucht man Kraft. Vielleicht hat der Täter das Messer mit beiden Händen gehalten oder es muss ein kräftiger Mann gewesen sein, der auf den am Boden liegenden Körper eingestochen hat“, überlegte Ronni weiter, der inzwischen Eisensteins Theorie folgte.
„Anderseits legt sich ein Jogger nicht freiwillig auf den Boden. Eine Kopfwunde, die auf einen Niederschlag hindeutet, ist nicht vorhanden. Ich denke, wir müssen das Ergebnis der Obduktion abwarten. Vielleicht erhalten wir neue Informationen, die uns weiterhelfen. Weiß du, wann wir das Ergebnis erhalten?“, fragte Eisenstein und beendete damit seine Mutmaßungen.
„Eventuell bereits heute. Susanne wollte sich beeilen und diesen Fall vorziehen.“
„Susanne? Sag bloß, Susanne bearbeitet den Fall? Das hat mir noch gefehlt.“
Frank Eisensteins Miene verdunkelte sich merklich.
„Ja und? Sie hat sich auch nach dir erkundigt. Vielleicht meldet sie sich demnächst bei dir. Privat, meine ich“, setzte Ronni noch eins drauf.
Jetzt schien Franks gute Laune restlos dahin zu sein.
„Du weißt doch: ich will mit Susanne nichts mehr zu tun haben. Du kannst jederzeit mit ihr über den Fall sprechen, ich werde mich dabei zurückhalten. Und privat, wie du das nennst, will ich erst recht nicht mit ihr sprechen.“
Eisenstein stand auf und ging zur Bürotür. Dort drehte er sich nochmals um.
„Hör du dich mal in der Laufszene um. Ich hab etwas zu besorgen. Privat“, sagte er und warf die Tür hinter sich zu.
„Verdammt. Du sturer Hund!“, entfuhr es Ronni und er schlug mit der Hand auf den Schreitisch, so dass die Bilder, die er sich vorher angesehen hatte, kreuz und quer über den Schreibtisch und auf den Boden fielen.
Ronnis Ziel war der Troisdorfer Stadtteil Altenrath. Hier wollte er damit beginnen, die Identität des Ermordeten festzustellen. Er fuhr vom Polizeipräsidium in Bonn über die A59 nach Troisdorf und von dort über die Altenrather Straße bis Altenrath. Dies ist der Stadtteil, der am weitesten vom Troisdorfer Zentrum entfernt ist und am Rande der Wahner Heide liegt. Als er am Leichenfundort an der Altenrather Straße vorbei kam, fuhr er ein wenig langsamer und schaute in diesen Teil der Heide hinein. Die örtliche Polizei hatte die Absperrungen inzwischen entfernt und nichts erinnerte mehr an den gestrigen Leichenfund. Heute schien die Sonne und die violetten Heidekräuter leuchteten bis zur Straße herüber.
Das letzte Stück der Straße bis Altenrath nannte man „Panzerstraße“ und Ronni fand, dass die Straße diesen Namen verdient hatte. Anscheinend war die Straße nur für Panzer gut befahrbar. Für normale Autos schien sie nicht geeignet zu sein. Der Asphaltbelag hatte in großflächige Betonplatten gewechselt, die eine Menge Schadstellen aufwiesen. Der Wagen rumpelte über die Straße und Ronni musste die Geschwindigkeit drosseln. Vor Altenrath fuhr er in einen Kreisverkehr. Er war froh, wieder auf einer normal asphaltierten Straße zu fahren.
Direkt nach dem Verlassen des Kreisverkehrs lenkte er seinen Wagen auf einen großen Parkplatz am Ortseingang.
Er hatte im Internet gelesen, dass es in Troisdorf drei Lauftreffs gab. Einen in Spich, einen anderen in Troisdorf-Zentrum und einen Lauftreff in Altenrath. Es stellte sich die Frage, welchen Verein er zuerst aufsuchen sollte. Die Leiche wurde in der Wahner Heide gefunden und Altenrath lag direkt in der Wahner Heide. Daher war es für ihn logisch, zuerst den Lauftreff in Altenrath aufzusuchen. Laut den Angaben im Internet trafen sich die Mitglieder zwei Mal in der Woche, mittwochs und samstags. Heute war Dienstag. Vielleicht hatte er Glück und er würde trotzdem einen Läufer antreffen. Andernfalls musste er Passanten befragen oder Einwohner in ihren Häusern aufsuchen.
Ronni stieg aus seinem Wagen, lehnte sich gegen die Wagentüre und wartete eine Weile. Kein Läufer kam vorbei. Wie sollten sie auch. Es war Mittagszeit, die Sonne stand am höchsten Punkt und es war heiß. Mit Sicherheit keine gesunde Laufzeit.
Plötzlich wurde er durch einen fürchterlichen Lärm aus seinen Gedanken gerissen. Ein Flugzeug überflog im Landeanflug in geringer Höhe den Ortsrand von Altenrath.
Das ist ja schrecklich, dachte er.
Aber die Bewohner des Ortes würden daran gewöhnt sein. Sie wohnten schließlich in der Einflugschneise des Köln-Bonner Flughafens und dieser Lärm kam vermutlich oft am Tag vor.
Er wollte sich gerade zu Fuß in das Zentrum des Ortes aufmachen, als er vom Kreisverkehr her einen alten Mann mit seinem Hund auf sich zukommen sah.
„Guten Tag, haben Sie einen Augenblick Zeit?“, fragte der Kommissar, als der Mann ihn erreicht hatte.
„Was wollen Sie denn wissen. Sie sind nicht von hier, nicht wahr?“, stellte der Hundebesitzer direkt eine Gegenfrage.
Ronni zeigte ihm seinen Dienstausweis.
„Mein Name ist Ronni Kern und ich bin Kommissar der Mordkommission Bonn. Ich habe da eine Frage. Kennen Sie diesen Mann?“
„Ah, es geht um den Toten, den man gestern dort unten bei Troisdorf gefunden hat. Ich habe es heute Morgen in der Zeitung gelesen. Schlimme Sache. Noch nicht einmal beim Laufen ist man sicher. Und die Zeitung hat auch kein Bild vom Toten veröffentlich. Wer war es denn?“
„Ja, genau. Das wollte ich gerade Sie fragen“, unterbrach Ronni den Mann.
Dabei zeigte er ein Foto des Toten.
„Mann, wie sieht der denn aus?“
Der alte Mann wandte seinen Kopf ab und zog die Stirn in Falten.
„Nun ja, er ist nun mal tot. Und Tote sehen nicht besonders hübsch aus“, antwortete Ronni und startete einen neuen Versuch.
„Schauen Sie bitte trotzdem noch ein Mal genau hin. Kennen Sie diesen Mann?“
Der Alte nahm dem Kommissar das Foto aus der Hand und hielt es mit ausgestreckten Armen vor seine Augen.
„Wissen Sie, ich habe meine Brille nicht dabei. Wenn ich meinen Hund ausführe, habe ich die nie dabei. Er ist schon alt und ich muss morgens ganz früh, mittags und abends mit ihm Gassi gehen.“
„Versuchen Sie es bitte. Kennen Sie ihn?“, unterbrach ihn Ronni erneut.
„Ja, ja. Das kann der Belgier sein. De Graaf heißt der. Wissen Sie, hier im Ort leben noch viele Belgier. Das hängt mit dem Truppenübungsplatz zusammen. Vor zehn Jahren ist das belgische Militär abgezogen und …“
„Ich muss Sie leider nochmals unterbrechen. Wissen Sie auch, wo dieser de Graaf wohnt, ich meine wohnte?“
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