„Welcher Jogger hat schon seine Ausweispapiere dabei? Wir haben ein Foto von ihm gemacht. Sobald ich hier fertig bin, schicke ich es dir auf deinen PC.“
„Danke Egon“, sagte Ronni.
Für Ronni war im Augenblick dieser Mordfall zweitrangig. Außerdem war alles gesagt, was er gegenwärtig wissen musste.
Seitdem er Susanne gesehen hatte, beschäftigte ihn der Zustand seines Chefs mehr. Er musste mit ihr darüber sprechen. Jetzt gleich. Er nahm Susanne beim Arm und zog sie einige Schritte vom Fundort der Leiche weg, sodass Egon ihre Unterhaltung nicht mitbekommen konnte.
„Hast du in letzter Zeit mit Frank gesprochen oder ihn gesehen?“
„Nein. Seit damals habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich habe einige Male versucht, ihn anzurufen, um mich mit ihm zu treffen, leider ohne Erfolg. Er will anscheinend nichts mehr mit mir zu tun haben. Wo ist er eigentlich? Bist du alleine hier?“
„Ja, ich bin alleine. Frank ist krank. Nein …, nicht direkt. Er hat sich heute Mittag frei genommen. Ich habe ihn angerufen, um mit ihm hierher zu fahren. Da er nicht ans Telefon ging, bin ich zu ihm nach Hause gefahren. Er war stockbetrunken. Aber das bleibt bitte unter uns!“
„Ja natürlich. Aber das ist doch nicht Franks Art. Hast du nicht mit ihm gesprochen?“
„Ich habe es versucht, das kannst du mir glauben. Ich komme nicht mehr an ihn heran. Das geht jetzt schon eine ganze Weile so.“
„Du meinst, mit dem Alkohol. Er trinkt doch hoffentlich nicht auch während der Arbeit?“
Susanne sah Ronni mit ängstlicher Miene an.
„Doch, tut er. Das Schlimmste daran ist, dass es ihm egal ist. Seine Arbeit, die er immer geliebt hatte, ist ihm egal. Kannst du das verstehen?“
„Wir müssen etwas unternehmen. Wir müssen mit ihm reden. Ich übernehme das. Danke für die Info. Frank ist mir immer noch wichtig, auch wenn er mich damals in die Wüste geschickt hat. Du hörst von mir. Auch natürlich, was diesen Fall hier betrifft.“
Damit verließ Susanne den Fundort der Leiche.
Die Leichenträger warteten bereits, um den Toten abzutransportieren.
Auch Ronni verabschiedete sich bei Egon und ging gedankenversunken zu seinem Wagen. Die Gedanken um Frank und Susanne musste er verdrängen. Jetzt ging es um diesen Toten.
Er überlegte, wie er die Identität des Toten in Erfahrung bringen könnte. Der Tote hatte doch sicher Familie, Freunde oder Arbeitskollegen. Vielleicht lag schon eine Vermisstenanzeige vor. Wenn es ein erfahrener Läufer war, war er eventuell in Läuferkreisen bekannt. Das Foto, das Egon gemacht hatte, könnte ihm weiterhelfen.
Als er im Auto saß, kreisten seine Überlegungen wieder um Frank Eisenstein und Susanne. So hundertprozentig konnte er sich nicht auf diesen Fall konzentrieren. Zu sehr beschäftigte ihn sein Chef und Freund. Er war gespannt, ob Susanne etwas bei Frank erreichen würde.
Er musste Frank jetzt wie versprochen anrufen und mit ihm diesen Fall besprechen. Hoffentlich hielt sich auch Frank an ihre Verabredung und kam ins Büro.
Ronni ging im Präsidium den langen Flur entlang, an dessen Ende sich sein Arbeitsplatz befand. Aus dem Büro, das Eisenstein sich mit ihm teilte, drang Licht in den Flur. Die Tür stand offen. Eisenstein saß hinter seinem Schreibtisch. Die Arme verschränkt und das Kinn lag auf seiner Brust. Es schien, als schliefe er.
„Hallo Frank“, begrüßte Ronni ihn freundlich.
Sogleich schnellte Eisensteins Kopf in die Höhe. Er hatte die Gedanken seines Kollegen erraten.
„Ich habe nicht geschlafen, falls du das denkst. Ich habe nachgedacht.“
„Worüber hast du nachgedacht?“, hakte Ronni direkt nach, weil er hoffte, etwas über den Grund von Franks Volltrunkenheit zu erfahren.
„Nichts was dich und den Fall betrifft“, erwiderte Frank recht einsilbig und Ronni war klar, dass ein weiteres Nachfragen sinnlos sein würde.
„Wie geht es dir? Bist du aufnahmefähig?“, fragte Ronni vorsichtig, denn er wollte den neuen Fall mit ihm besprechen.
„Na klar. Ein Bier zu viel wirft mich doch nicht um. Das kann jedem einmal passieren.“
„Und eine halbe Flasche Wodka“, berichtigte Ronni säuerlich und verzog dabei sein Gesicht zu einer Grimasse.
„Erzähle, was gibt es?“, wechselte Eisenstein das Thema.
Offensichtlich wollte Eisenstein nicht weiter über seine Verfassung reden. Schon gar nicht über den Grund seines Absturzes.
Ausführlich berichtete Ronni, was er in der Heide vorgefunden hatte.
Er erwähnte nicht, dass er Susanne als zuständige Rechtsmedizinerin angetroffen hatte. Dass sie über ihn gesprochen hatten und dass Susanne sich womöglich bei ihm melden würde, verschwieg er ebenfalls.
„Okay, dann müssen wir abwarten, bis wir das Foto haben. Damit können wir uns dann in der Läuferszene umsehen. Du kannst ja heute noch checken, ob eine Vermisstenanzeige vorliegt. Wir sehen uns dann morgen in alter Frische“, sagte Eisenstein, stand auf und verschwand aus dem Büro.
Ronni schaute ihm entgeistert hinterher. Ihm fehlten die Worte. So uninteressiert, ja fast desolat, hatte er seinen Chef noch nicht erlebt.
Er schüttelte weitere Überlegungen über Frank von sich und warf seinen Computer an.
Das Foto des Toten lag noch nicht vor. Er suchte nach einer Vermisstenanzeige in Troisdorf und den Nachbarstädten, denn der Tote musste nicht zwangsläufig aus Troisdorf sein. Der Tatort war nicht der Fundort und konnte demnach überall sein. Vielleicht in Köln, Bonn oder Siegburg.
Nichts – keine Anzeige, die auf den Toten zutreffen könnte.
Es war inzwischen bereits spät. Unternehmen konnte er jetzt nichts mehr. Vielleicht war seine Isabelle noch wach. Er freute sich auf seine Freundin und verließ das Büro.
Es war dunkel im Kinderzimmer. Felix lag in seinem Hochbett und lauschte. Musik aus dem Wohnzimmer drang leise zu ihm herüber.
Wahrscheinlich schauen meine Eltern irgend so eine dieser blöden Musiksendungen, dachte er.
Es war schon eine gefühlte Ewigkeit her, seitdem seine Mutter ihm heute den „Gute-Nacht-Kuss“ gegeben hatte. Sein Vater kam nie zu ihm ans Bett, um „gute Nacht“ zu sagen. Meistens sagte er nur einfach „Nacht, Felix“, wenn Felix an ihm vorbei ins Kinderzimmer ging. Dabei schaute er ihn noch nicht einmal an. Das Programm im Fernsehen schien immer wichtiger zu sein. Felix hatte gelernt, diese Kälte zu erwidern. Er ging nie zu seinem Vater. Weder abends, wenn er ins Bett ging, noch bei sonstigen Gelegenheiten tagsüber. Seine Mutter war die Ansprechperson für ihn – und nur ausschließlich sie.
Zu seinem achten Geburtstag hatte sein Vater ihm einen Zwerghamster geschenkt. Ohne Käfig. Lieblos - nur in einem winzigen Karton. Dann hatte er sich wie immer mit einer Flasche Bier vors Fernsehgerät gehockt. Über seinen Geburtstag oder über den Hamster verlor er kein Wort mehr.
Felix hatte sich nie einen Hamster gewünscht. Sein Vater hatte seiner Mutter erklärte, dass ein Hamster das Einsteigetier für jedes Kind wäre.
„Er braucht wenig Platz und vor allem: er lebt nicht lange“, waren seine überzeugenden Worte.
Wo sollte Felix den Hamster lassen? Seinen Vater interessierte das recht wenig. Lediglich seine Mutter versuchte ihm zu helfen. Sie holte als Notunterkunft für das kleine Tier einen alten Vogelkäfig aus dem Keller. Die Seiten kleidete sie mit engmaschigem Kaninchendraht aus, den sie ebenfalls im Keller fand. In einer Höhe von ungefähr zwanzig Zentimetern befestigte sie eine dünne Holzplatte zwischen den Streben des Käfigs. Zwerghamster klettern gerne an den Gitterstäben empor und lassen sich von dort aus fallen. Daher darf der Käfig nicht zu hoch sein. Das war vor fünf Wochen – und dabei blieb es bis heute.
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