Für die Versorgung und Ernährung war Felix verantwortlich. Er besorgte Heu, das er alle paar Tage wechselte, wenn er denn daran dachte. Wenn es mal wieder in seinem Zimmer zu sehr stank, war sein Vater der erste, der ihn deshalb anmeckerte und mit Strafe drohte, wenn er den Käfig nicht sofort säuberte.
Seine Mutter schenkte ihm eine kleine Schale für Wasser, das er täglich wechseln sollte. Auch für das Futter musste er selbst sorgen. Löwenzahnblätter von der Wiese im nahen Park. Manchmal nahm er auch ein Stück Salatgurke, eine Möhre oder ein Stück Apfel von seinem Essen für den Hamster. Von seinem geringen Taschengeld sollte er hin und wieder im Zoohandel spezielles Körnerfutter kaufen. Heimlich, ohne dass sein Vater es bemerkte, kaufte meistens seine Mutter das Futter. Dafür erhielt sie dann aus Dankbarkeit einen besonders dicken Kuss.
Der Hamster, die damit verbundene Arbeit und Verantwortung war das Geschenk seines Vaters, über das er sich riesig bis zu seinem nächsten Geburtstag freuen sollte.
Inzwischen hasste er den Hamster, der natürlich nichts dafür konnte.
Am vergangenen Samstag kam sein Vater von einer mehrtägigen Montagereise zurück.
„Ich habe meinem lieben Felix auch etwas für seinen armen Hamster mitgebracht“, überraschte er Felix.
Felix nahm das hämische Grinsen seines Vaters genau wahr, als er ihm als Willkommensgeschenk zu allem Überfluss ein Laufrad schenkte. Felix warf das Geschenk wütend auf den Boden und lief weinend aus dem Zimmer. Am nächsten Tag versuchte seine Mutter nette Worte für seinen Vater zu finden und Felix zu einer gewissen Freude über das Geschenk zu überreden. Schließlich brachte sie selbst das Laufrad im Käfig an.
Jetzt lag Felix in seinem Bett und starrte in die Finsternis des Zimmers, und in seinen Gedanken beschäftigte er sich mit seiner Mutter, die er über alles liebte, mit seinem Vater, den er hasste, insbesondere jedoch mit dem grässlichen Hamster.
Wenn er auch schlafen wollte, das monotone Drehen des Laufrades im Hamsterkäfig machte das unmöglich. Das nachtaktive Tier hatte jetzt ein Gerät, womit es seinen Bewegungsdrang befriedigen konnte.
Felix hatte sich in Wut gedacht und sprang auf, kletterte die Leiter aus dem Hochbett hinab und tastete sich im Dunkeln zum Hamsterkäfig. Er öffnete die Türe und nahm den Hamster in seine Hand.
Ein Hamster hat keinen Höhensinn. Er merkt nicht, ob es aus der Situation zehn Zentimeter oder einen Meter nach unten geht. Man stelle sich die kleinen Knochen vor, wie dünn und zerbrechlich die sind. Ein Sturz aus einem Meter Höhe ist für einen Hamster wie ein Sturz aus dem zweiten Stock für uns Menschen. Wenn er sich bedroht fühlt, beißt er oder will weg, und dann springt er einfach. Unten an, kommt man bestimmt. So primitiv denkt ein Hamster.
Felix Hamster fühlte sich nicht bedroht. Er kauerte sich in der hohlen Hand. Er biss nicht und er sprang nicht.
Felix streichelte ihm mit der anderen Hand zärtlich über den Rücken.
Dann öffnete er seine Hand zu einer geraden Fläche. Der Hamster blieb zusammengekauert sitzen. Unverhofft warf er das kleine Tier mit Schwung in die Höhe.
Ein leises Aufklatschen auf dem Laminatboden entlockte Felix ein breites, lautloses Grinsen.
In der Dunkelheit suchte er den Fußboden nach dem Tier ab. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er das tote Tier gefunden hatte. Behutsam, als wenn er mit zu groben Bewegungen das Tier wieder zum Leben erwecken würde, legte er es in den Käfig.
Was für ein schrecklicher Unfall, dachte er. Hat sich der Hamster im Käfig doch selbst umgebracht!
Zufrieden legte er sich ins Bett. Ein Lächeln blieb noch lange, nachdem er eingeschlafen war, auf seinem Gesicht.
Ronni kam heute Morgen später als gewöhnlich ins Präsidium. Auf dem Flur zum Büro begegnete ihm Sybille Baum, die Büroangestellte, die ihren Arbeitsplatz im gleichen Büroraum hatte.
„Guten Morgen, Ronni. Du bis spät dran. Er sitzt bereits seit über einer Stunde am Schreibtisch“, war die erste Information, die er heute von ihr erhielt.
„Morgen, Sybille. Mit ‚er‘ meinst du bestimmt unseren Chef?“
„Na klar, wen denn sonst. Er sitzt da und schaut sich unablässig fürchterliche Bilder vom Toten von gestern an.“
„Danke, Sybille“, sagte Ronni, ohne auf ihre Information über Frank einzugehen.
Er setzte sein freundlichstes Lächeln auf, denn er wusste, dass das Sybille für die nächsten Stunden in äußerst gute Laune versetzen würde. Eilig ging er die letzten Meter zum Büro.
„Guten Morgen, Frank. Ich sehe, du bist bereits fleißig?“, sagte er mehr fragend als feststellend, nachdem er die Türe hinter sich geschlossen hatte.
„Morgen“, war Eisensteins einsilbige Antwort.
„Immer diese Gewalt, die wir uns ansehen müssen“, klagte er.
Er fuhr sich mit beiden Handflächen durch das Gesicht und lehnte sich im Stuhl zurück.
„Wir haben noch keinen Bericht von der Obduktion. Aber sieh‘ dir trotzdem diese Bilder einmal genau an und sag mir, was dir auffällt.“
Ronni setzte sich auf den Besucherstuhl auf der anderen Seite von Eisensteins Schreibtisch und nahm sich den Stapel Bilder. Aufmerksam betrachtete er jedes Bild. Eisenstein sagte nichts dazu. Er beobachtete seinen Kollegen interessiert, wie er die Bilder ein ums andere Mal durchsah.
Alle Bilder zeigten eine männliche Leiche, blasses Gesicht, schwarze Shorts, blutgetränktes weißes T-Shirt. Die acht Einstiche waren wegen des Blutes kaum erkennbar. Der linke Arm lag seitlich vom Körper, wogegen der rechte Arm nach hinten über den Kopf hinaus ragte. Am rechten Handgelenk trug der Tote eine schwarze Digitaluhr mit Stopp- und anderen Funktionen. Einen Ehering trug er nicht – das jedoch nicht unbedingt etwas zu sagen hatte. Verletzungen an Armen, Beinen und am Kopf waren nicht zu sehen. An beiden Armen befanden sich lediglich Blutspritzer, die höchstwahrscheinlich durch die vielen Einstiche am Oberkörper entstanden waren.
„Mir fällt nichts Besonderes auf. Die Menge der Einstiche lässt auf eine große Wut des Täters schließen“, sagte Ronni schließlich.
„Richtig. Das ist ein Jogger. Der läuft durch die Heide und dann soll jemand plötzlich vor ihm auftauchen und ihm acht Mal ein Küchenmesser in den Oberkörper rammen? Und der Jogger bleibt dabei unbeweglich stehen?“
Eisenstein sah Ronni eindringlich an.
„Du hast Recht. Das T-Shirt ist nicht zerrissen. Hätte sich der Mann gewehrt oder hätte er sich gedreht oder irgendwie bewegt, wäre das T-Shirt eingerissen. Außerdem versuchst du doch wegzurennen, wenn jemand mit einem Messer vor dir steht. Wäre der Täter von hinten gekommen, wären vermutlich die Stiche im Rücken. Das können wir demnach ausschließen“, kombinierte Ronni.
„Es sieht doch fast so aus, als hätte das Opfer auf dem Boden gelegen und der Täter hat dann wie wild auf ihn eingestochen. Oder das Opfer hat gestanden und eine weitere Person hat ihn festgehalten, während die andere Person auf ihn eingestochen hat. Dann muss es sich bei der Person, die das Opfer festhielt, um eine sehr kräftige Person gehandelt haben, denn wenn einer mit einem Messer vor dir steht, wirst du dich mit aller Kraft wehren.“
Eisenstein hatte sich im Drehstuhl zurück gelehnt und starrte an die Zimmerdecke.
Ja, denn wenn es um dein Leben geht, wachsen einem ungeahnte Kräfte“, ergänze Ronni.
„Ach, ich weiß nicht? Zwei Täter? Wenn zwei Personen einen Mord ausführen, bedeutet das für beide immer ein erhöhtes Risiko. “
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