„Hier liegt ein Toter!“
Mit weit aufgerissenen Augen starrten ihn seine Frau und sein Sohn an. Insgeheim hatten sie es erwartet, aber die unverblümte, nüchterne Mitteilung des Familienvaters schockierte sie trotzdem.
Ein Toter im Sand inmitten der Wahner Heide! Wie ist das möglich? Hier ist doch alles so friedlich, dachte Michaels Mutter.
Worte kamen ihr aber nicht über die Lippen.
Recht hatte sie. Nachdem die belgische Armee Anfang 2004 die beiden genutzten Kasernen in der Heide verlassen hatte, kehrte grundsätzlich Friede in diese strapazierte Landschaft ein. Keine Manöver, keine Panzerbewegungen mehr – es wurde ruhig in der Heide.
Und jetzt das hier!
Michael hatte sich eng an seine Mutter geschmiegt, die wiederum ihren Sohn beschützend mit den Händen an sich drückte. Beide wollten so schnell wie möglich von diesem schrecklichen Ort weg.
Der Vater zog sein Handy aus der Tasche.
„Wie ist noch die Nummer der Polizei. 110 oder 112?“, fragte der Vater, der seine Aufregung nicht verbergen konnte.
„110 natürlich“, informierte ihn sein Sohn kleinlaut.
Der Vater stellte die Verbindung her und berichtete dem Polizeibeamten der Notrufzentrale, was sie gefunden hatten und wo sie sich aufhielten.
„Wir werden am Auto auf Sie warten“, beendete er schließlich das Gespräch und forderte damit gleichzeitig seine Familie auf, den Rückweg anzutreten.
Kriminalkommissar Ronni Kern drückte den Klingelknopf zur Wohnung von Kriminalhauptkommissar Frank Eisenstein. Auch nach dem zweiten Versuch öffnete sich nicht die Haustüre.
Seltsam, Frank müsste doch da sein, dachte er.
Er klingelte bei der Vermieterin. Er wusste, dass diese die Parterrewohnung bewohnte. Den Rest des Hauses hatte sie vermietet.
Die Vermieterin öffnete die Tür. Sie war eine ältere Frau, deren Mann vor mehr als zehn Jahren verstorben war. Seitdem lebte sie allein. Sie kannte Ronni und freute sich, ihn zu sehen.
„Herr Eisenstein ist so gegen 18 Uhr in seine Wohnung hoch gegangen. Ich habe nicht gesehen, dass er danach nochmal das Haus verlassen hat“, sagte sie.
Ronni bedankte sich und ging hoch zu Franks Wohnung im zweiten Stock.
Seitdem Frank sich im vergangenen Jahr von seiner Freundin Ilka getrennt hatte und er auch die Möglichkeit einer Beziehung zur Gerichtsmedizinerin Susanne Ohlrogge abgebrochen hatte, wohnte er hier. Ronni hatte ihm diese Wohnung in Bonn empfohlen, in der er selbst übergangsweise in der Zeit vom Beginn seiner Versetzung nach Bonn bis zum Bezug seiner jetzigen Wohnung in Bonn-Beuel gelebt hatte. Die Wohnung bestand aus Wohn- und Schlafzimmer und einer kleinen Küche. Dazu Bad und Toilette. Sie war vollständig möbliert, was Frank zum damaligen Zeitpunkt sehr entgegen kam. Das Haus war eine imposante, weiß gestrichene und vollständig renovierte Jugendstil-Villa aus dem Jahre 1904 mit Unter- und Erdgeschoss, sowie zwei Obergeschossen.
Ronni klopfte an die Wohnungstür. Nichts rührte sich. Er klopfte nochmals – jetzt allerdings lauter und drängender. Nichts. Sein Chef schien doch nicht in seiner Wohnung zu sein.
Ronni hatte gesehen, dass sein Wagen am Straßenrand direkt vor dem Haus stand. Sollte Frank zu Fuß in die Stadt gegangen sein? Vielleicht um in einer der gemütlichen Gaststädten im Bonner Zentrum ein Bier zu trinken, oder etwas zu Abend zu essen? Er hatte keine Ahnung.
Sein Verhältnis zu seinem Chef war seit einigen Wochen, wenn nicht sogar seit Monaten, gestört. Frank hatte sich verändert, war nicht mehr so offen und mitteilsam wie früher. Nach Dienstende ging er fast immer allein zu seiner Wohnung. Ein gemeinsames Bier mit seinem Freund und Kollegen lehnte er ab. Manchmal wirkte er sogar depressiv, schien keine Freude mehr an seiner Arbeit zu haben. Von seinen Freunden und Kollegen entfernte er sich immer mehr.
In der ersten Zeit, nachdem Frank die Wohnung bezogen hatte, verbrachten sie oft die Freizeit zusammen mit Ronnis Freundin Isabelle. Womöglich fühlte er sich als „fünftes Rad am Wagen“, obschon er nie etwas in dieser Richtung äußerte und Ronni auch nie diesen Eindruck hatte.
Als Ronni sich in Richtung Treppe umdrehen wollte, drückte er aus einer Art Reflex den alten Messinggriff der Türe herunter. Die Tür war unverschlossen und sprang sofort auf.
Er drückte die Tür etwas mehr zur Seite, um einen Schritt in den kleinen Flur zu setzen. Es roch muffig und er war sich sicher, den Geruch von Alkohol zu riechen. Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt. Er ging vorsichtig darauf zu. Irgendetwas war hier seltsam. Routinemäßig suchte seine rechte Hand nach seiner Dienstwaffe unter seiner Jacke. Mit der linken Hand drückte er sanft gegen die Wohnzimmertür, die sich mit einem leichten Quietschen öffnete.
Was er dann sah, ließ ihm den Atem stocken. Seine rechte Hand löste sich von seiner Dienstwaffe und er stürmte in das Zimmer hinein.
„Frank, was ist los mit dir?“, rief er außer sich und lief mit ein paar großen Schritten auf ihn zu.
Kriminalhauptkommissar Frank Eisenstein lag mit dem Rücken auf dem Sofa, das direkt vor dem großen Fenster stand. Sein rechter Arm baumelte von seiner Schulter herunter, und seine Fingerspitzen berührten den hellen Langflor-Teppich.
Eisenstein schlief tief und fest, eingehüllt in eine Alkoholfahne.
Um ihn herum herrschte eine totale Unordnung, die Ronni noch mehr verwunderte, als der Alkoholdunst, der von seinem Chef ausging. Mehrere leere Bierflaschen standen auf dem Tisch und auf dem Fußboden. Eine halbleere Flasche Wodka stand auf dem Boden neben seinem herunterhängenden Arm. Es war schon ein Wunder, dass er sie nicht mit der Hand umgestoßen hatte. Außerdem verunstalteten eine aufgerissene Papiertragetasche, sowie zwei, mit trockener Currysoße beschmierte, leere Pappschachteln den Glastisch.
Insgesamt bot sich ihm ein Bild, das er von Frank so nicht kannte.
„Aufwachen, aufwachen!“, schrie er Frank an und rüttelte ihn kräftig bei der Schulter.
„Aufwachen, wir haben einen Einsatz!“, ergänzte er in der Hoffnung, dadurch Eisensteins Lebensgeister zu erwecken.
Tatsächlich kam ein dunkles Stöhnen aus seiner Kehle und sein Körper drehte sich dabei auf die Seite, als suche er eine bessere Schlafposition.
„Du musst wach werden! Ein Toter liegt in der Wahner Heide und wir müssen hin.“
Ronni Kern hatte das Rütteln eingestellt und hob jetzt Eisensteins Oberkörper leicht an.
„Ja, ja. Lass mich in Ruhe“, brummte Frank fast unverständlich.
Die Dringlichkeit von Ronnis Bemühungen schien Eisensteins umnebeltes Gehirn erreicht zu haben. Langsam richtete er seinen Körper in eine sitzende Position auf.
„Was ist los? Ein Toter, sagst du?“
„Ja genau, du hast es endlich begriffen. Und wir müssen schnellstens dorthin.“
„Ich kann nicht. Mein Schädel brummt, als ob ich gegen eine Wand gelaufen wäre.“
Auch Ronni hatte inzwischen die Sinnlosigkeit seines Vorhabens erkannt. So konnte er seinen Chef unmöglich mit zu einem Tatort nehmen.
„Ich mache dir jetzt einen starken Kaffee und du begibst dich in der Zeit unter die Dusche. Sieh zu, dass du möglichst schnell wieder ein einigermaßen vernünftiger Mensch wirst. Sobald ich am Tatort fertig bin, treffen wir uns im Büro. Ich rufe dich dann an.“
Eisenstein sagte nicht mehr. Sein Zustand war ihm jetzt peinlich. Langsam erhob er sich und schwankte in Richtung Badezimmer.
Ronni begab sich in die Küche und bereitete einen starken Kaffee für seinen Chef.
Was war bloß mit ihm los? Seit Wochen war er nicht mehr der Frank Eisenstein, den er von früher kannte. Genau genommen, veränderte er sich seit der Geschichte am Sieglarer See, als er sich von seiner Freundin Ilka trennte und auch seiner alten Liebe Susanne nicht näher kommen wollte. Die Trennung von Ilka konnte Ronni verstehen. Stand die Lebensweise von Ilka doch in manchen Sachen im krassen Kontrast zu der von Frank. Nicht nur, weil sie unbedingt in einem Dorf leben wollte und Frank das Leben in der Stadt bevorzugte.
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