Für den nun folgenden Stadtrundgang trennten sich die beiden Klassen.
Die Mädchen waren begeistert von der Altstadt, den vielen originellen Brunnen und den Informationen, die sie während des Rundgangs erhielten. Die Jungs hingegen langweilten sich oder taten zumindest so, als ob sie sich langweilten und fühlten sich dabei cool.
Auch das Dreiländereck konnte die Einstellung der Mädchen und Jungs zu den Sehenswürdigkeiten nicht ändern. Lediglich der Besuch des Dreiländerlabyrinths sorgte kurzfristig auch bei den Jungs für bessere Stimmung.
Nach dem offiziellen Programm hatten die Schüler beider Klassen noch genügend Zeit, auf eigene Faust die Stadt zu erkunden. Dabei blühten die Jungs sichtbar auf. Jetzt war kein Stadtführer oder Lehrkörper mehr dabei, der das Wort führte und alles wusste. Konnten sie doch jetzt ihre Coolness zur Schau stellen und versuchen, ihre weiblichen Klassenkameradinnen zu beeindrucken.
Obschon Sonja den Alkoholkonsum von Dennis, Sven, Louis und Benjamin nicht guthieß, war sie von deren Selbstsicherheit, Mut und Ungehorsam gegenüber den Anweisungen der Erwachsenen beeindruckt. Sonja und die vier Jungen hatten sich von den übrigen Klassenkameraden abgesetzt und zogen allein albernd durch die Stadt. Dennis schien seine Pleite vom stinkenden Brunnen und Sonjas Kränkung, als sie ihn auslachte, überwunden zu haben, denn er lachte und alberte wieder mit ihr, als wäre nichts gewesen.
Da sie die mitgenommene Verpflegung bereits während des Stopps in Düren verzehrt hatten, nahmen sie sich kurz Zeit, ihren Hunger mit herkömmlichem Fast Food zu stillen.
Sie waren ausgelassen, machten sich über eigenwillig aussehende Passanten und über manch skurrile Sehenswürdigkeit in der Aachener Altstadt lustig.
Alle vier jungen Männer zeigten unbekümmert Sympathie für Sonja. Sie war aber auch eine kleine Hübsche. Für den heutigen Tag hatte sie sich modisch gestylt, ganz im Trend des Jahres. Das bedeutete, dass sie, anders als bisher gewohnt, das kürzeste und engste Teil zuoberst trug. Ein blütenweißes Overshirt trug sie lässig über die Leggins-Hose, die ihre tadellose Figur gut hervorhob. Darüber hatte sie ein kurzes Westchen angezogen. Mit den zum Pferdeschwanz zusammengebundenen, blonden Haaren, war sie ein echter Hingucker. Wenn sie dann noch mit ihren lustig blickenden, blauen Augen und den vier Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken einen Schüler ansah, hatten sie schon so manchen Schüler verzaubert.
In unbeobachteten Momenten riskierte ein jeder ihrer Begleiter einen intensiven Blick auf sie.
Irgendwie war heute alles anders als im Klassenzimmer und während des Schulstresses. Auch Sonja fand die Vier mehr und mehr sympathisch. Insbesondere Benjamin hatte es ihr angetan. Im Gegensatz zu Dennis, der ein „Macher“ war, war Benjamin ruhig und still. Er war der typische Mitläufer, der das tat, was alle taten. Immer bedacht, nicht aufzufallen und nicht anzuecken. Sonja fand seine Art sympathisch und war auch der Meinung, dass er nicht so wie die anderen dem Alkohol zusprach, was ihm Pluspunkte bei ihr einbrachte. Die längeren Blicke, die er, nach seiner Meinung sicherlich unbemerkt, auf sie richtete, ließ ein Kribbeln in ihrer Magengegend entstehen.
Kurz vor zwanzig Uhr fanden sich alle Schüler in der Bahnhofshalle ein und gingen gemeinsam zum Bahnsteig. Der nostalgische Zug stand bereits abfahrbereit mit rauchender Lok im Gleis.
Vorher hatte Dennis die leere Schnapsflasche heimlich in einem Mülleimer entsorgt. Von Benjamin hatte Sonja erfahren, dass er im Bahnhof noch alkoholischen Nachschub für die Rückfahrt besorgt hatte. Mit dem Öffnen der Flaschen wollten sie bis nach der Zeugnisübergabe warten. Bis zu diesem hoch offiziellen Teil des Programms würden sie zu sehr unter Beobachtung stehen – und ein unkalkulierbares Risiko eingehen, das wollten sie nicht.
Beim Einsteigen in den Wagen der „Holzklasse“ nahm Benjamin wie selbstverständlich Sonjas Hand und zog sie in den Wagen. Drinnen gab er ihre Hand dann nicht mehr frei und schaute sie vielsagend lächelnd an. Sonja ließ es freudig geschehen und ihr Herz jubelte. Würde der Tag vielleicht so enden, wie sie es in den letzten Stunden in ihrem Innersten erhofft hatte?
Sonja und die übrigen Schüler der Klasse 10A betraten als Erste gemeinsam den Barwagen. Nach einer Ansprache ihres Klassenlehrers und einer Elternvertreterin wurde ihnen feierlich das Abschusszeugnis überreicht.
Natürlich ahnte jeder, welche Note er in den Fächern erhalten würde, trotzdem war Dennis enttäuscht. Wenn er bisher gehofft hatte, aus Gnade ein „ausreichend“ in Mathematik zu erhalten, holte ihn die Wirklichkeit auf den Boden der Tatsachen zurück. Ein deprimierendes, klares „mangelhaft“ stand im Zeugnis. Hätte er nicht zufrieden stellende Noten in einigen Ausgleichsfächern, wäre der Abschluss der „mittleren Reife“ nicht möglich gewesen. Obschon er den Abschluss erreicht hatte, hatte er Angst, das Zeugnis seinen Eltern und besonders seinem jähzornigen Vater vorzulegen.
Vor zwei Jahren, als er die Klasse wiederholen musste, begann zu Hause ein Fiasko. Alle Privilegien wurden ihm gestrichen – und das während der gesamten Sommerferienzeit. Der Druck, den sein Vater danach auf ihn ausübte, war so groß, dass er die Schule hinschmeißen wollte. Und jetzt ahnte er wieder Schreckliches, wenn er nach Hause kam und das Zeugnis vorlegte.
Die Zeremonie der Zeugnisübergabe war kurz vor Düren beendet. Einen Stopp zum Auffüllen der Wassertanks der Lok gab es dieses Mal nicht.
Nach der Zeugnisübergabe begaben sich die Schüler zurück auf ihre ursprünglichen Plätze in der „Holzklasse“. Die Lehrer und Eltern blieben im Barwagen. Sie ahnten, dass die Schüler jetzt feiern wollten und es jetzt laut werden würde. Sie wollten dabei kein Spielverderber sein.
Louis schaltete erneut seinen Ghettoblaster an und augenblicklich verbreitete sich eine ausgelassene Stimmung im Wagen. Viele Schüler standen auf den Holzbänken und sangen die Hits des Jahres lautstark mit. Culture Beat mit „Mr. Vain“ wechselte mit Helge Schneiders „Katze Klo“ und „I‘d do Anything for Love“ von Meat Loaf.
Sonja zwänge sich auf der Zwei-Personen-Bank zwischen Michael und Benjamin, wobei sie fast vollständig auf den Beinen von Benjamin saß.
Gegenüber von ihr hatte Dennis die zweite Flasche klaren Schnaps aus seinem Rucksack genommen und reichte sie in die Runde, nachdem er selbst den ersten großen Schluck genommen hatte. Mit Sicherheit wollte er möglichst schnell seine Zeugnisnote in Mathe und das bevorstehende Donnerwetter zu Hause im Alkohol ertränken.
In Köln legte die Dampflok einen kurzen Halt ein, damit die Angestellten des Leverkusener Unternehmens aussteigen konnten. Dann verließ der Zug mit mehreren lauten Pfiffen und fürchterlichem Qualmausstoß den Bahnhof in Richtung Troisdorf. Dennis packte die geleerte Flasche in seinen Rucksack. Die zweite Flasche, die er im Aachener Bahnhof gekauft hatte, wollte er für den Heimweg aufheben.
Auch Sonja hatte dem Drängen von Dennis nachgegeben und widerwillig vom Alkohol probiert. Die Gesichter der vier Jungen hatten inzwischen eine rote Farbe angenommen, die nicht nur in der Hitze im Waggon seine Ursache hatte.
Kurz vor Troisdorf gingen die Lehrer durch die Waggons und machten ihre Schüler darauf aufmerksam, dass sie in Kürze Troisdorf erreichen würden. Außerdem verlangten sie, dass die Musik ausgeschaltet wurde und alle ihre Plätze ordentlich einnahmen.
Die Lokomotive fuhr langsam, quietschend in den Bahnsteig ein. Nachdem die Lok stand, quoll dicker Rauch zwischen den Rädern heraus, der dann genauso wie der Qualm aus dem Schornstein langsam erstarb.
Читать дальше