Ulrike Schmitzer
Es ist die
SCHWERKRAFT,
die uns umbringt
Roman
Mit Dank an Irini Athanassakis, von der die im Roman beschriebenen Kunstwerke stammen
Kapitel 1
Notiz 1
Kapitel 2
Notiz 2
Kapitel 3
Notiz 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Notiz 4
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Notiz 5
Notiz 6
Kapitel 14
Kapitel 15
Notiz 7
Kapitel 16
Notiz 8
Notiz 9
Notiz 10
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Notiz 11
Kapitel 21
Notiz 12
Kapitel 22
Notiz 13
Kapitel 23
Kapitel 24
Notiz 14
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Notiz 15
Notiz 16
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
KIRAS LEXIKON DER ASTRONAUTEN-FEHLER
A
B
C
D
F
G
I
K
L
M
N
O
P
R
S
T
V
W
X
Die junge Frau neben mir kramt hektisch in ihrer Tasche, holt eine Digitalkamera hervor.
Sie beugt sich über mich und streckt die Hand mit der Kamera zum Zugfenster, hält sie gegen den Himmel. Sie drückt ab, wartet ein wenig, drückt wieder ab und immer wieder.
Entschuldigen Sie, sagt sie, während sie sich wieder in ihren Sitz zurücklehnt. Ich fotografiere Strommasten.
Sie sind Künstlerin, sage ich.
Nein, warum, fragt sie und sieht mir in die Augen. Das ist mein Hobby.
Fotografieren, frage ich vorsichtig.
Strommasten, sagt sie. Strommasten fotografieren. Sehen Sie nur, wie wunderschön die Bilder sind. Keines gleicht dem anderen. Die Bewegung zerreißt die Masten. Ich hab tausende Bilder, und jedes ist anders.
Wie lange machen Sie das schon, frage ich.
Ein paar Jahre, sagt sie, wann immer es geht. Aber so schön wie heute werden sie nur selten. Das Licht. Das Licht ist heute besonders schön.
Ja, das Licht ist heute schön, sage ich, und sie beugt sich wieder über mich.
Alle drei Monate fahre ich mit dem Zug ins Weltraumzentrum. Oft dauert es dort nur einen Tag, manchmal das ganze Wochenende. Sie sagen es mir vorher nie. Als ob das so schwierig wäre. Sie müssen es doch wissen. Ich hätte nicht unterschreiben müssen. Sie haben mich mehrmals kommen lassen, mich vielen Tests unterzogen, ein Jahr lang bin ich immer wieder befragt und untersucht worden, bevor ich unterschrieben habe. Die Unterschrift war letztlich ein Triumph, auch wenn sie erzwungen war. Sie haben mir so lange erzählt, dass sie mich nicht werden nehmen können, so lange, dass ich nur noch ein Ziel vor Augen hatte: Ich muss hinein. Ich habe mir keine Gedanken mehr gemacht, was es heißt, drinnen zu sein. Was es wirklich heißt, eine von ihnen zu sein.
Das ist unsere Weltraumarchitektin.
Er stellt sie mir mit einer kurzen Handbewegung vor, greift zum Handy, das gerade läutet.
Ihr kommt schon zurecht, sagt er schon mehr ins Handy als zu uns und verlässt den Raum.
Xenia, sagt sie und gibt mir ihre Hand.
Hallo, sage ich und vergesse mich vorzustellen. Xenia kann doch nicht ihr richtiger Name sein, denke ich und finde es kindisch, sich so zu nennen.
Sie haben vermutlich schon genug vom Testen, sagt sie freundlich, aber wir haben eine neue Versuchsreihe gestartet, für die Ihre Mitarbeit sehr wichtig ist.
Xenia hat glatte, schwarze Haare. Sie trägt ein rotes Designerkleid im Stil der 1990er-Jahre. Wir setzen uns an den grauen Tisch im Besprechungsraum.
Worum geht’s denn, frage ich.
Um Space-Design. Meine Aufgabe ist es, Ihnen allen den Flug und den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.
Sie klappt ihren Laptop auf und spielt mir ein paar Animationen vor.
Sehen Sie, sagt sie. Das Space-Bett. Die Astronauten beklagen sich, dass sie das Gefühl des Zudeckens vermissen. In der Schwerelosigkeit funktioniert das nicht.
Ich dachte, wir haben dann künstliche Schwerkraft, frage ich.
Da können wir noch nicht sicher sein, sagt sie.
Der Space-Chair – und das ist die Space-Dusche, sagt sie.
Eine Dusche soll das sein, frage ich.
Daran haben wir zehn Jahre gearbeitet, sagt sie. Der Duschkopf. Er sprüht und saugt das Wasser wieder ein. Und der Clou: Er reinigt es auch gleich.
Wir möchten gerne, dass Sie diese Geräte testen. In der Schwerelosigkeit.
Schon wieder ein Parabelflug, sage ich.
Anders wird es nicht gehen, sagt sie.
Ein Parabelflug, das heißt zwanzig, dreißig Mal im Sturzflug nach unten, das heißt zwanzig, dreißig Mal steil nach oben. Das heißt so lange rauf und runter, bis das Kotzen unvermeidbar ist.
Vierundvierzig, sagt sie. Sie haben schon vierundvierzig Parabelflüge absolviert.
Schon so viele, frage ich.
Das steht zumindest hier.
Wann soll es denn losgehen?
Morgen, sagt sie.
Morgen, wiederhole ich.
Meine Kollegin wird Sie noch in die Geräte einweisen und Ihnen alle Handgriffe erklären. Was ich von Ihnen will, sagt sie, ist eine detaillierte Kritik nach dem Flug. Wir haben 20 Testpersonen, und von Ihnen wird die Qualität der Ausstattung abhängen.
Worauf soll ich genau achten, frage ich. Und wie soll ich in der kurzen Zeit, in 20 Sekunden, im Space-Bett »testschlafen«?
Sie lacht.
Das ist wie einen Pyjama anprobieren, dafür müssen Sie auch nicht schlafen. Sie werden Designvariationen zum Testen bekommen. Die Details wird Ihnen meine Kollegin erklären. Wir sehen uns dann nach dem Parabelflug wieder, sagt sie.
Ich bin froh, dass es nicht wieder einer dieser psychologischen Tests ist. Sie haben mich stundenlang eingesperrt, unter Druck gesetzt, um zu sehen, wie ich reagiere. Sie haben mir nichts zu essen gegeben, mich ewig nicht schlafen lassen. Ich bin nicht in Tränen ausgebrochen. Sie haben mir unlösbare Aufgaben gegeben und mir gesagt, die anderen hätten das in einer Stunde gelöst. Sie haben mich gedemütigt. Ich bin nicht in Tränen ausgebrochen. Vielleicht war das falsch? Vielleicht beweist man damit, dass man eine Verbindung zu seiner Gefühlswelt hat? Wie verhält man sich am besten unter den Augen der Forscher? Ich hätte das sehr gerne einmal mit jemandem besprochen. Mit jemandem von innen. Sie achten aber darauf, dass wir keinen Kontakt untereinander haben. Ich kenne niemanden. Ich habe versucht, mir die Menschen auf dem Bahnhof einzuprägen. Sind es immer wieder dieselben, denen ich begegne? Die auch immer dann am Bahnhof sind, wenn ich dort bin, obwohl ich nie zur gleichen Zeit ankomme?
Das FBI ist auf meiner Seite, flüstert mir plötzlich eine Frau am Bahnhof ins Ohr. Das FBI. Sie packt mich am Ärmel, reißt mich fast um. Ich sehe ihr wirres Haar und die große Aktentasche, die sie vor dem Bauch trägt. Aufpassen, Österreich! Im dritten Bezirk ist schon die Atombombe. Sie dreht sich mit ihrer Tasche wie in einem Karussell, schreit 3-2-1, und mit einem lauten GO wirft sie die Tasche von sich. Niemand beachtet sie.
Читать дальше